„Es ist nie zu spät, etwas zu sagen“

von Redaktion

Jelena Stanilov vom Münchner Frauennotruf erklärt, wo sexuelle Belästigung im Job oder im privaten Umfeld beginnt – und wann professionelle Hilfe nötig ist

Jelena Stanilov hilft Frauen, die von sexueller Belästigung betroffen sind. Im Interview erklärt die Diplom-Sozialpädagogin, warum Schweigen gefährlich ist – und wann Anlaufstellen wie der Frauennotruf München unterstützen können.

-Wo fängt sexuelle Belästigung an?

Sexuelle Belästigung ist jedes sexualisierte Verhalten, das merklich jemanden stört. Das beginnt schon bei unangenehmen Witzen, Kommentaren, verschickten Texten oder Bildern. Und es geht weiter, über das Anfassen bis hin zur Gewalt, zur Vergewaltigung.

-Wo ist dann die Grenze zum Flirten?

Definitionskriterium der sexuellen Belästigung ist, dass das Verhalten unerwünscht ist. Ein Flirt, ein Kompliment ist total okay – so lange beide das so sehen. Wenn jemand die Bitte äußert, damit aufzuhören und das Gegenüber damit weitermacht, ist es eine Belästigung. Wer erkennt, dass der oder die andere nicht aktiv mitmacht, sollte sein Verhalten hinterfragen und im Zweifel damit aufhören. Das gilt auch, wenn das Gegenüber unter Drogen- oder Alkoholeinfluss steht oder sich aus anderen Gründen nicht unter Kontrolle hat.

-Wie sollte man reagieren, wenn man sich belästigt fühlt?

Am besten sofort äußern, dass einem etwas unangenehm ist. Dabei gerne genau benennen, um was es geht. Zum Beispiel: ,Ich möchte nicht, dass du mich noch einmal so anfasst wie gerade eben.‘ Viele schaffen es aber nicht, gleich zu reagieren – einfach, weil sie so überrascht von der Situation sind. Wenn das belästigende Verhalten subtil ist oder schon fest verankert im jeweiligen Umfeld, merkt man oft erst mit der Zeit, was einen stört. Aber es ist nie zu spät, etwas zu sagen.

-Gibt es etwas Besonderes zu beachten, wenn die Belästigung im Job oder in der eigenen Ausbildungsstätte passiert?

Bei Belästigungen am Arbeits-, Ausbildungs- oder Studienplatz gilt zunächst ebenfalls: Sagen, wenn man ein Verhalten nicht mag. Oder das auch schriftlich mitteilen. Dann gibt es hier den Sonderfall, dass der oder die Vorgesetzte zuständig ist für die Personalfürsorge und die Sicherheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Deswegen gibt es in vielen Betrieben und Ausbildungseinrichtungen Anlaufstellen, die beim weiteren Vorgehen unterstützen können – etwa Betriebsrat oder Gleichstellungsbeauftragte.

-Was ist die Gefahr, wenn Betroffene dennoch schweigen?

Wenn man durchgehend sexuell belästigt wird, drohen Antriebslosigkeit, soziale Ängste, Depressionen und ein allgemeines Gefühl der Schwäche, des Kontrollverlustes. Über die Vorfälle zu sprechen, tut dann immer gut, ob im Privaten oder bei einer Beratungsstelle. Das geht oft auch anonym.

-Wann sollte man sich auf jeden Fall professionelle Hilfe holen?

Wenn man etwas anzeigen möchte, sollte man sich informieren. Zum Beispiel bei Beratungsstellen wie unserem Frauennotruf oder direkt bei juristischen Fachleuten. Denn auf eine Anzeige kann neuer psychischer Stress folgen – wenn man befragt wird und alles noch einmal erzählen muss. Auch finanzielle Belastungen sind möglich, wenn Verfahrenskosten für einen Gerichtsprozess auf einen zukommen.

-Was kann ich tun, wenn ich Zeuge einer Belästigung werde oder einen Verdacht habe?

Dann sollten Sie dem Opfer beistehen, ihm oder ihr zum Beispiel sagen, was man gesehen hat und fragen, was man tun kann, um zu helfen. Also nicht unbedingt den Vorfall gleich melden oder versuchen, Betroffene zu weiteren Schritten zu drängen. Fragen Sie die Person, was Ihrer Meinung nach helfen könnte, die Situation zu verbessern. Als Angehöriger, Freund oder Freundin einer belästigten Person kann man sich ebenfalls an Beratungsstellen wie unsere wenden.

Interview: Anne-Nikolin Hagemann

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