München – An diesem Tag, an dem viel geheuchelt wird, ist das die ehrlichste Emotion. Barbara Stamm drängt sich durch die Reihen des CSU-Vorstands nach vorne, auf Horst Seehofer zu. Sie sagt nicht viel, sondern schließt ihn in die Arme und drückt. Fest. Es knirscht. Und als Stamm ihren Parteivorsitzenden wieder loslässt, ist ihre Brille zerbrochen. Sie stutzt, lacht, greift nach dem abgebrochenen Bügel und reckt ihn wie eine Trophäe in die Luft: Schaut her – so hat sich die CSU wieder lieb.
Schade um die Brille, aber die Partei kann solche Signale dringend brauchen. Soeben ist der erbittertste Machtkampf des letzten Jahrzehnts entschieden worden. Der Ministerpräsident muss gehen, die Umfragewerte rutschen in den Keller, die Gräben in der CSU sind tief. Dass die mütterliche Landtagspräsidentin mal wieder mit so was wie Zuneigung anfängt, soll den Parteifreunden ein Vorbild sein.
Auch für Seehofer selbst. Er erlebt einen bitteren Tag und versucht, sich das nicht anmerken zu lassen. „Alles wird gut“, murmelt er freundlich am Morgen, auf dem Weg in die Sitzungen. „Was wollen Sie mehr?“ Nun, was er wollte, ist hinlänglich bekannt: Wahlen gewinnen, im Amt bleiben und Markus Söder als Nachfolger verhindern. Nichts davon glückt. Morgens meldet der 68-Jährige stattdessen vor den Parteigremien, was am Wochenende intern ausverhandelt wurde: Er wird zurücktreten vom Amt als Ministerpräsident, irgendwann im ersten Quartal 2018. Er soll Parteichef bleiben, die Berliner Koalition weiter verhandeln und vielleicht als Minister dort in eine Regierung eintreten. Und in München akzeptiert er Söder als künftigen Regierungschef.
Vor allem dieses Detail macht den Kompromiss für Seehofer bitter. Es geht nicht ums Loslassen, das hätte er geschafft. Aber wer die beiden Rivalen die letzten Jahre begleitete, erlebte eine abgrundtiefe Abneigung, die das in der Politik Übliche weit übersteigt. Legendär sind Seehofers ätzende Sätze über Söder, geäußert vor exakt fünf Jahren bei einer Weihnachtsfeier: „charakterliche Schwächen“, „zu viele Schmutzeleien“. Sie kleben wie Pech an Söder, der sein Außenbild sonst so gut kontrolliert.
Nun müssen sie zusammenarbeiten, weil die CSU-Fraktion das so will. Am Montag küren die Abgeordneten Söder einstimmig zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl im Herbst – per Handzeichen, wo sich Gegner oft nicht aus der Deckung trauen. Die vorgesehene geheime Wahl darf man sich ja sparen, weil Innenminister Joachim Herrmann in der Sitzung auf eine Gegenkandidatur verzichtet. Herrmann war Seehofers letzte Hoffnung, noch irgendwas gegen Söder organisieren zu können. Als die Nachrichten von einem Geheimtreffen der Söder-Gegner in der Staatskanzlei vergangene Woche durchsickerten, platzte der Plan.
Nun sind Seehofer und Söder, die sich im Machthunger so ähnlich sind, eben der Alte und sein Erbe. Es wird ein großes Schauspiel brauchen, um die Öffentlichkeit glauben zu machen, die Erzfeinde hätten zusammengefunden. An diesem ersten Tag der neuen CSU-Zeitrechnung versuchen sie es zumindest. Durchs Fenster eines Sitzungssaals sind sie zu beobachten bei ihrem ersten Händedruck: Höflich, nicht leidenschaftlich, Seehofer steht schnell auf, damit sie auf Augenhöhe sind, beide nicken hinterher huldvoll. Die Worte sind nicht zu verstehen. Aber immerhin Worte: Es gab auch schon Monate, wo sie gar nicht miteinander sprachen.
Neuanfang? Weihnachtswunder? Seehofer würgt sich keine übertriebenen Lobreden auf Söder heraus. „Der brennt für Bayern“, sagt er auf die dritte Nachfrage, aus seiner Sicht ein Kompliment, das muss genügen. Er begründet den Wechsel strategisch: In dieser Konstellation habe die CSU die besten Erfolgschancen. Erst irgendwann am Nachmittag wird er philosophisch: „Wenn einer alles vergisst, ist er arm dran. Wenn einer nichts vergessen kann, ist er noch ärmer dran.“
Vielleicht ist das auch ein Eingeständnis, dass Söder zu gut war, sich eine zu gewaltige Hausmacht aufgebaut hat in jener Phase, als sein Chef noch glaubte, ihn mit regelmäßiger Kritik kleinhalten zu können. Als er noch sagte, über Bayern müsse „der Himmel einstürzen“, ehe er als Ministerpräsident abtrete. Jedenfalls schlägt Seehofer vorerst den umgekehrten Weg ein: Kooperation. Söder wird ab sofort eingebunden, in die Regierungsgeschäfte, in die Berliner Sondierungen, in CSU-Sachen. Er wird Hauptredner am Parteitag sein und sogar beim Aschermittwoch in Passau, wo er unter Seehofer sonst keinen Pieps machen durfte.
Söder tut sich leichter an diesem Tag, er ist der Gewinner. Rhetorisch hatte er die Annäherung eh schon länger versucht. Alle paar Tage sagte er zuletzt seinen Standardsatz, er werde zu einer gemeinschaftlichen Lösung „die Hand reichen“. Nie verknotete sich seine Zunge. Auch jetzt nicht. In seinem ersten Auftritt als designierter Erbe, als Spitzenkandidaten-Kandidat, beginnt er mit der nötigen Beschönigung. „Ich war die meiste Zeit im Kabinettskreis mit Horst Seehofer eng zusammen“, sagt Söder. Er redet über Geschlossenheit, Respekt, Anstand. „Es kommt jetzt darauf an, vor der Geschichte zu bestehen. Dazu müssen die Stärksten eng zusammenarbeiten.“
Das klingt gut, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn die Geschichte lehrt auch: Doppelspitzen in der CSU funktionieren selten reibungsfrei. Zwischen Erwin Huber und Günther Beckstein, die sich allenfalls ein klitzekleines bisschen misstrauten im Vergleich zum neuen Spitzenduo, genügten schon ein paar Minuten unabgesprochenen Auftretens für hässliche Schlagzeilen. Söder wird damit schon Minuten nach seiner Nominierung konfrontiert. Wer der Chef sei, wenn Seehofer die Partei führe und Söder die Regierung, wird er gefragt. Er steht breitbeinig vor den Kameras, die Hände vor dem stattlichen Körper verschränkt, doch seine Antwort ist in diesem Punkt matt. „Der Parteivorsitzende ist der Vorsitzende der Partei. Und der Ministerpräsident ist der, äh, Ministerpräsident.“ Mit anderen Worten: Wenn der mir reinregiert, dann, dann – weiß ich auch noch nicht.
Einiges wird nun davon abhängen, wie die Partei die Einigung der Alphatiere aufnimmt. Söder hat viele Feinde, milde gesagt Skeptiker. In seinen Worten: Leute, „die sagen: ,Weiß nicht – der Söder?!‘“ Er will sie umgarnen, die Basis weiter bereisen, verspricht Demut und Arbeitseinsatz rund um die Uhr. Er beginnt direkt nach der Wahl. Wo andere ein Glas Sekt aufmachen oder ihre Familie anrufen würden an dem Tag, an dem nach 35 Jahren Kärrnerarbeit in der Partei klar ist, dass sie ihr großes Lebensziel erreichen, läuft Söder mutterseelenallein durch einen der Flure des Landtags, zückt sein Handy und beantwortet SMS von Parteifreunden.
Viele werden ihm nun schöntun von diesem Tag an, weil er die nächsten Ministerposten vergeben wird, andere werden ihn fürchten. Es sind ja noch ein paar Rechnungen offen. In der Staatskanzlei, wo Söder ab Frühjahr herrschen wird, gibt es zur Feier des Tages in der Kantine Miesmuscheln. Eine offene Rebellion bleibt aber aus. „Es ruckelt“, sagt Parteivize Manfred Weber, und lobt dann tapfer Söders Wahl. Man könne nun „zur maximalen Geschlossenheit zurückkehren“, sagt Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. „Wir haben die Gräben zugeschüttet“, erklärt Ministerin Ilse Aigner. Drei aus der Partei, die sich nicht träumen ließen, je für den polarisierenden Franken die Hand heben zu müssen. Was sie an diesem Tag tun. Alle.
Von Söder selbst kommt allerdings ein verräterischer Versprecher. Das sei heute „ein Tag des Vertrauens gegeneinander“, haspelt er. „Miteinander“, korrigiert er sich dann. Auch das war wohl ein ehrlicher Moment.