Deserteure im Vomper Loch

von Redaktion

Junge Soldaten tauchten 1943 an der bayerischen Grenze unter

Vor 75 Jahren hat sich im „Vomper Loch“, einem unzugänglichen Talkessel des Karwendels bei Hinterriß/Eng, geradezu Unglaubliches zugetragen: Ab dem Frühjahr 1943 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hielten sich dort bis zu 30 Wehrmachts-Deserteure vor dem Zugriff der NS-Behörden versteckt. Sie hatten eisern verschwiegene Helfer im Tal, die sie mit Nahrungsmitteln versorgten und vor Suchtrupps warnten. Es grenzt an ein Wunder, dass die Männer trotz intensiver Nachforschungen von Hitlers Gestapo unentdeckt blieben.

Das Vomper Loch ist eine tiefe Schlucht, die von den Einheimischen als Inbegriff der Abgeschiedenheit und Ende der Welt angesehen wird. Zu den Ersten, die sich dort versteckten, gehörte der 16-jährige Ernst Lerchster. Als Kindersoldat hatte er den Fahneneid auf den Führer schwören müssen und im Jugoslawienkrieg fürchterliche Gräuel erlebt, als er einen kurzen Heimaturlaub dazu nutzte, in die heimischen Berge zu flüchten. Ebenso wie der gleichaltrige Sepp Innerebner, der seinem Sohn später immer wieder beteuerte, er habe das nicht aus Feigheit getan: „Ich wollte nicht mehr auf Menschen schießen.“

An einem unzugänglichen, dicht bewaldeten Steilhang errichteten sie aus Ästen Hütten und Unterstände und hielten sich dort zwei eisige Winter lang versteckt. Sie hungerten und froren erbärmlich, denn Holz hacken und Feuer machen war gefährlich. „Es war fast unmöglich. Wie die gehaust haben, ist mir ein Rätsel“, sagte Zeitzeuge Walter Scartezzini in einem Dokumentarfilm, der vor einigen Jahren auf 3sat lief. Ihnen war klar, dass sie einen lebensgefährlichen Entschluss getroffen hatten: Auf Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung stand die Todesstrafe, die während der NS-Diktatur in mindestens 20 000 Fällen vollstreckt wurde.

Mit der Zeit kamen immer mehr Deserteure in dieses Lager, am Schluss waren es 30. Sie alle wussten, dass ihre Überlebenschancen gering waren. Zudem bestand auch die Gefahr, dass es angesichts der extremen Enge und enormen psychischen Anspannung zum Lagerkoller kommt.

Sie hatten ein Netzwerk höchst couragierter Helfer: Bäuerinnen aus dem Tal versorgten sie mit Lebensmitteln, die von Almbauern in vereinbarten Proviantdepots hinterlegt wurden. Auf ihrer Seite stand auch der Revierjäger Martin Steinlechner, der sich nach außen hin als strammer Nazi ausgab und über bevorstehende Razzien von Wehrmachtseinheiten und Feldjägern informiert war. Vereinbartes Signal an die Deserteure war für diesen Fall, dass eine Bäuerin auf einer bestimmten Leine im Tal ihre Wäsche aufhängte. Zu ihren Verbündeten zählte auch ein Kriminalbeamter, der ihre Ermittlungsakten in seinen dicken Stapeln immer wieder nach unten wandern ließ.

Als der Krieg und der Naziterror zu Ende waren und die Männer sich erst Tage später zurück ins Tal trauten, da war ihre schwere Zeit keineswegs vorüber. An den Stammtischen gab es Hänseleien und Beleidigungen. Sie wurden als „Feiglinge, Verräter und Kameradenschweine“ beschimpft, die ihre Gefährten an der Front im Stich gelassen hätten. Ernst Lerchster, Sepp Innerebner und andere Zeitzeugen verstummten und zogen nur noch ihre nächsten Angehörigen ins Vertrauen.

Erst ihre Nachkommen durchbrachen den Mantel des Schweigens. In Deutschland sind Wehrmachts-Deserteure erst 2002, in Österreich sogar erst 2009 kollektiv rehabilitiert worden. Als 2014 am Wiener Ballhausplatz ein Deserteurs-Mahnmal enthüllt wurde, fand Bundespräsident Heinz Fischer klare Worte. Dass Wehrmachts-Deserteure viele Jahre als Verräter angesehen wurden, sei „traurig. Das ist etwas, wofür man sich entschuldigen und schämen muss.“

RAINER BANNIER

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