Josef Weiland beugt sich über den Container und wühlt in der Erde. Ein braun verfärbter Knochen kommt zum Vorschein. „Ein Oberschenkelknochen“, sagt Weiland. Er stammt aus dem Grab, das sein Kollege gerade aushebt. Weiland legt den Knochen auf den Haufen mit den anderen Fundstücken: Stofffetzen und verrottete Sargreste. Weiland ist Totengräber auf dem Münchner Westfriedhof. Offiziell heißt sein Beruf Grabmacher. Das klingt netter, so, als wäre er für die dekorative Gestaltung der Gräber zuständig. In Wahrheit gräbt Weiland die Löcher, in die später Urnen und Särge kommen. Und an denen Angehörige trauern.
Weiland, 61, grüne Latzhose, weiße Haare und braun gebrannt, ist der dienstälteste Grabmacher auf dem Westfriedhof. Seit 37 Jahren hebt er dort Gruben aus. „Hätte mir in meiner Jugend jemand erzählt, dass ich das mal beruflich mache, hätte ich gesagt: Nein, bloß das nicht!“, sagt er mit österreichischer Färbung. Weiland stammt aus der Steiermark und ist gelernter Einzelhandelskaufmann. Als junger Mann war er beim Militär.
Dass er auf dem Friedhof hängen blieb, verdankt er seinem Bruder. Der war damals schon Grabmacher auf dem Westfriedhof. Mit 24 verließ Josef die Steiermark und zog ebenfalls nach München. Dort fing er als Friedhofsdekorateur in einer Gärtnerei an. Bis ihm der Bruder, der inzwischen im Ruhestand ist, riet, den unsicheren Arbeitsplatz gegen eine Anstellung bei der Stadt zu tauschen.
Jetzt steht er am Container und sucht nach sterblichen Überresten. Sein junger Kollege hebt gerade ein Familiengrab mit dem Bagger aus. Drei Menschen haben dort schon ihre letzte Ruhe gefunden. Auf dem Grabstein steht, wann: 1982, 1987, 1990. Nun kommt noch jemand dazu und im Grab muss für Ordnung gesorgt werden, weil die letzte Bestattung schon fast 30 Jahre her ist. Die Gebeine werden gesammelt und am Boden des Grabes erneut beigesetzt. Ganz ohne Zeremonie.
Josef Weiland gibt ein Zeichen – der Container ist voll, die Knochen sind aussortiert. Weiland lädt den Container auf seinen Kipplaster und fährt zu einer Art Müllhalde, wo er die Erde ausschüttet. Pro Grab braucht es mehrere solcher Fahrten. Das Aushubvolumen beträgt drei Kubikmeter – ein Gewicht von fünf Kleinwagen. Die Knochen, Stoff- und Sargreste legt Weiland zurück ins Grab und bedeckt sie mit Erde. Dann steigen er und sein Kollege in die 2,20 Meter lange und 1,80 Meter tiefe Grube.
Der Kollege, der noch nicht lange auf dem Westfriedhof arbeitet, gräbt weiter. „Was machst du denn, das Grab ist doch lang genug“, sagt Weiland. Wenn er schimpft, kommt der Dialekt noch stärker durch. Die Schaufel kommt zur Seite. Die Grabmacher kleiden die Grube längsseits mit Brettern aus, in die kurzen Seiten spannen sie als Stütze Stahltafeln. Es ist 9.30 Uhr. Um 13 Uhr wird die Trauergemeinde Abschied nehmen. Hinter dem Grab ist bereits ein Metallgestell aufgebaut. Der Friedhofsdekorateur wird es später mit schwarzen Tüchern verhüllen, die Kränze auslegen und das Grab mit Blumen schmücken.
„Ich weiß, dass Angehörige am Grab stehen und trauern werden. Aber ich blende das aus“, sagt Weiland. Mittlerweile sei seine Arbeit Gewohnheit. „Sonst würde man das auch gar nicht aushalten.“ Wenn er Gräber für Kinder und Jugendliche schaufelt, ist das anders. „So abgebrüht kann man gar nicht sein, dass es einem nicht jedes Mal eiskalt den Rücken runterläuft.“ Es könnte ja auch der eigene Enkel sein.
Diesen Gedanken hat Weiland immer im Kopf, wenn er ein Grab vorbereitet. Dass es auch ein eigener Angehöriger sein könnte. Entsprechend sorgfältig und würdevoll geht er mit den sterblichen Überresten um. „Es ist wichtig, dass man nicht schludert.“
Weiland fährt zur nächsten Grabstelle. Ein Urnengrab. Mit seinem Laster rumpelt er über die Schotterwege. Am Ziel springt er aus dem Wagen und holt seine Schaufel von der Ladefläche. Die 80 Zentimeter tiefen Urnengräber werden noch von Hand gegraben. Weiland hat Glück: Weil es sich um ein genutztes Familiengrab handelt, ist das Erdreich bereits aufgelockert. Nach wenigen Minuten ist er fertig. Bei dem neuen Urnengrab, das er in der Früh ausgehoben hat, musste er sich erst durch Geröll und Wurzelwerk kämpfen.
Zehn Gräber stehen an diesem Tag auf der Liste – sechs Mal Urne, vier Mal Sarg. Grabmachen im Akkord, wie Weiland sagt. Fünf Männer teilen sich die Arbeit. Nur zwei bleiben, um die Gruben wieder zuzuschütten. Die anderen haben mittags Feierabend. „Ohne die Freizeit könnte ich den Job nicht machen“, sagt er. Denn Gräber auszuheben ist körperliche Schwerstarbeit – vor allem in frostreichen Wintern.
Mit seinem Beruf hadert Josef Weiland nur bei schlechtem Wetter. „Dann denke ich schon: Mensch, es gibt so viele andere Berufe, die ich machen könnte.“ Im Winter muss er bis zu 30 Zentimeter dicke Eisschichten mit dem Presslufthammer knacken. Als er vor 37 Jahren anfing, gab es noch nicht mal Bagger. Vier Jahre lang musste er jeden Tag zwei bis drei Gräber von Hand schaufeln. „Und das, obwohl ich damals nur 72 Kilo gewogen habe!“, erinnert sich Weiland.
Dass er ein ganzes Berufsleben lang Löcher gegraben hat, stört ihn nicht. Er mache letztlich nichts anderes als Menschen, die jeden Tag im Büro den Computer hochfahren. „Meine Frau macht sich immer über mich lustig, weil ich von Computern keine Ahnung habe. Dann sage ich, dass sie doch mal auf den Friedhof kommen soll, um mit dem Bagger ein Grab auszuheben“, sagt Weiland.
Er spricht viel von seiner Familie. Von seiner Frau, seiner Tochter, seinem 14-jährigen Enkel. Und der Schwiegermutter. Sie ist vor zwei Jahren gestorben, mit 86. „Die Oma“, wie er seine Schwiegermutter nennt, sei immer dabei gewesen. Im Urlaub, beim Kartenspielen, beim Tennis. Bis zu ihrem 85. Lebensjahr stand sie auf dem Platz. Dann hat die ganze Familie gespielt, meistens gegeneinander. Vier Generationen waren dann versammelt. Weiland und seine Frau hatten bereits den nächsten Familienurlaub geplant, als die traurige Nachricht kam. Gemeinsam mit der Oma wollten sie nach Bibione – Badeurlaub.
Das Urnengrab ist fertig. Weiland schaut, was als Nächstes auf der Liste steht. Eine Erdbestattung. Sein junger Kollege ist schon vor Ort. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, als sich die Baggerschaufel in die Erde gräbt. Durch Handzeichen signalisiert Weiland seinem Kollegen, wo er als Nächstes graben soll. Erst kommt nur Erde, dann taucht eine Decke auf, faserig und zersetzt. Sie kommt nicht in den Container, sondern neben das Grab. Bald häufen sich dort weitere Stoffreste, vergilbte Bänder und Holzteile, dazwischen die silbernen Scharniere eines Sarges. Sie sind mit blütenförmigen Ornamenten verziert. Etwas daneben liegen Teile einer Schädeldecke. Weilands Kollege gräbt tiefer. Eine schwarze Strumpfhose klemmt zwischen den Greifzangen der Baggerschaufel. Bis auf einzelne Löcher ist sie vollständig erhalten.
Josef Weiland will sich verbrennen lassen. Es sei sauberer, sagt er. Und umweltfreundlicher. Mittlerweile gibt es vergängliche Urnen, die sich nach zwei Jahren zersetzen. Der Kollege, bestimmt 30 Jahre jünger als Weiland, schwingt sich in die Grube. „Pass auf, du bist nicht mehr der Jüngste“, sagt Weiland. Der Kollege lacht.
Das Grab ist fertig. Für heute ist die Arbeit getan. Weiland wischt Erde von einem Grabstein, dann gehen die beiden zurück zum Betriebshof, wo die anderen Grabmacher bereits mit den Friedhofsaufsehern am Tisch sitzen. Die stellen sicher, dass die Toten an der richtigen Stelle begraben werden, kontrollieren den Grabschmuck und leiten die Beerdigungen. „Sie müssen es ausbaden, wenn wir unsere Arbeit nicht richtig machen“, sagt Weiland. Wenn zum Beispiel der Sarg nicht versenkt werden kann, weil das Grab zu klein ist.
Es gibt auch eine Beschwerdestelle. Weiland hat bereits ihre Bekanntschaft gemacht. Als er einmal die Knochen aus einem Grab holte, erschien plötzlich ein Angehöriger. Der Mann war überrascht über den guten Zustand der Knochen. „Ja mei“, hat Weiland geantwortet, „das ist wie mit den Dinosauriern. Da findet man auch noch nach Millionen von Jahren Knochen.“ Zwei Wochen später erreichte ihn ein Beschwerdebrief. Weiland habe behauptet, die Mutter des Mannes sei ein Dinosaurier.
Im Betriebshof gehen die Männer den Plan für den Nachmittag durch. Ihr Aufenthaltsraum ist karg. Ein Tisch, eine Eckbank, zwei Stühle. Die Wände sind weiß gefliest, der Boden braun. Im Eck steht eine Waschmaschine, daneben ein kleiner Schrank mit zwei Kaffeemaschinen. Neben der Tür befindet sich ein langes Spülbecken aus Stein. Kaffee läuft durch die Maschine. Statt frischer Milch nehmen die Männer Kaffeeweißer, einen Milchersatz in Pulverform.
Die Männer rühren in ihren Tassen. Plötzlich fällt Josef Weiland noch etwas ein: Als Soraya, die ehemalige Kaiserin von Persien, 2001 in Paris starb, wurde ihr Leichnam nach München überführt. Sie sollte im Familiengrab auf dem Westfriedhof beerdigt werden. Weil der Sarg, in dem sie transportiert wurde, in Deutschland nicht erlaubt war, hat Josef Weiland sie in einen anderen gelegt. „Ich kann also sagen, dass ich die Kaiserin von Persien in den Händen gehalten habe“, sagt Weiland. „Leider war sie tot, aber immerhin.“ Am Ende, sagt einer der Aufseher, liege jeder da unten. „Ja“, sagt ein anderer. „Das ist die einzige Gerechtigkeit.“