Dialekt mit Sprachfehler verwechselt

von Redaktion

Weil er das „R“ seinem Dialekt gemäß ausspricht, glaubt die Lehrerin eines Elfjährigen aus Ohlstadt an einen Sprachfehler. Der Bund Bairische Sprache spricht von einem pädagogischen Unfall – und schlägt Dialektfortbildungen für Lehrer vor.

VON KATHRIN BRACK

Ohlstadt – Auf einmal redete Sebastian* anders, das ist seiner Mama schnell aufgefallen. Die Familie aus Ohlstadt (Kreis Garmisch-Partenkirchen) spricht mit Überzeugung Dialekt, die Eltern wie auch die drei Söhne. „Mensch, wie redst denn Du?“, fragte sie Sebastian, den Jüngsten. Seine Lehrerin habe gesagt, er hätte einen Sprachfehler, entgegnete der Bub, der eine weiterführende Schule im Landkreis besucht. Bei der nächsten Elternsprechstunde fragte die Mutter nach und erfuhr, dass der Bub das „R“ komisch ausgesprochen haben soll. Doch diesen Sprachfehler habe die Lehrerin ihm inzwischen abgewöhnt.

Was die Lehrerin, die laut Sebastians Mutter nicht aus Oberbayern stammt, für einen Sprachfehler hält, ist eine Besonderheit des Isarwinkler Dialekts, sagt Bernhard Stör. „Normalerweise wird das ,R‘ im Bairischen mit der Zungenspitze gesprochen oder vokalisiert, also durch einen a-Laut ersetzt“, erklärt der Dialektforscher und Sprachwissenschaftler.

„Sebastian biegt die Zunge beim ,R‘ nach hinten, wobei die Zungenspitze den Gaumen nicht berührt. Das nennt man retroflex und es klingt, als würde man das ,R‘ wie im amerikanischen Englisch aussprechen.“ Man könne es sich klanglich „ein bisserl vorstellen wie ein Hund, der knurrt“.

Das retroflexe ,R‘ taucht in einer besonderen lautlichen Umgebung auf: Wenn es zwischen einem Vokal und einem Konsonanten steht, wie in den Wörtern „Dorf“ oder „Berg“. Es ist eines des Merkmale des Dialekts des Isarwinkels, das von Wolfratshausen über Schlehdorf bis Lenggries und im Osten bis Miesbach zu hören ist. „Auch im Loisachtal gibt es das retroflexe ,R‘. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das auch in Ohlstadt gesprochen wird“, sagt Stör. „Und das ist auf keinen Fall ein Sprachfehler, sondern eine regionale Variante.“

Der Lehrerin sei es nicht darum gegangen, den Dialekt zu unterdrücken, sagt Niklas Hilber. „Sie hat die Aussprache nur nicht als lokale Dialektbesonderheit identifiziert, sondern ein logopädisches Problem dahinter vermutet.“ Hilber lebt selbst im Kreis Garmisch-Partenkirchen und ist der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Bairische Sprache. Durch Zufall erfuhr er von dem Fall.

„Wir müssen uns bemühen, derartige pädagogische Unfälle künftig zu vermeiden“, findet er. Sein Vorschlag: Lehrer, die nicht dort unterrichten, wo sie selbst aufgewachsen sind, sollen eine verpflichtende Fortbildung zu den Merkmalen des lokalen Dialekts erhalten. „Die könnten die jeweiligen Kreisheimatpfleger abhalten, die es in allen Landkreisen und kreisfreien Städten gibt.“

So sieht es auch Dialektforscher Bernhard Stör: „In die Lehrerausbildung gehört das Befassen mit lokalen Dialekten. Dass Lehrerinnen und Lehrer hin- und hergeschoben werden, ist mit schuld am Dialektschwund bei Schülern.“

Sebastians Mutter will der Lehrerin und der Schule keinen Vorwurf machen. „Wir haben darüber gesprochen und die Sache geklärt“, sagt sie. Sie fände es wichtig, dass die Kinder im Unterricht noch mehr über die eigene Heimat erfahren. „Und man sollt’ den Buben reden lassen, wie man halt bei uns redt.“ Einen Vorteil hat Sebastian übrigens durch die besondere Art, wie er das „R“ ausspricht: „Er tut sich in Englisch bei der Aussprache sehr leicht“, sagt seine Mutter. „Dafür lobt ihn die Lehrerin immer wieder.“

*Name geändert

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