Wenn in Bezug auf die NS-Zeit von Flugblättern die Rede ist, denken die meisten an diejenigen der Weißen Rose. Den Schriftstücken anderer Widerstandsgruppen wird weit weniger Beachtung zuteil. So registriert die Gestapo 1936 weit über eine Million Flugblätter der verbotenen Parteien SPD und KPD.
Im Juni und Juli 1942 entstehen die ersten vier Flugblätter der Weißen Rose. Zu Papier bringen sie die Studenten Alexander Schmorell und Hans Scholl. Letzterem hat Jakob Knab anlässlich seines 100. Geburtstags eine Biografie gewidmet. Der pensionierte Studiendirektor aus Kaufbeuren zeichnet nach, wie Scholl nach anfänglicher Begeisterung für Hitler zunehmend auf Abstand zu dem Diktator geht. Die Geschichte einer Umkehr also.
Knab, bekannt für seine Kritik an der Traditionspflege der Bundeswehr, erfindet mit seinem Buch das Rad nicht neu. Das räumt er auch gleich zu Beginn ein. „Der vorliegenden Biografie ist an weiteren Enthüllungen nicht gelegen.“ Vielmehr geht es dem Autor um die „Freilegung von bislang verhüllten Spuren, die Hans Scholl auf seinem Weg leiteten“.
Stark beeinflusst wird er vom Christentum. Der Glaube gibt dem Medizinstudenten ab der Jahreswende 1941/1942 Halt, er prägt sein Handeln und Denken. Im dritten Flugblatt wird das NS-Regime als „Ausgeburt der Hölle“ bezeichnet. Religiöse Bezüge finden sich auch in den anderen Flugschriften. Hitlers „atheistische Kriegsmaschine“ wird angeklagt, an anderer Stelle heißt es: „Wir sind Euer böses Gewissen.“
Scholl ist ein belesener junger Mann. Er beschäftigt sich früh mit Nietzsche, Plato, Dante, Kierkegaard und dem Kirchenlehrer Augustinus. Für den Widerständler bedeutsame und wegweisende Figuren sind zudem die katholischen Schriftsteller Carl Muth und Theodor Haecker. Muth, Scholls väterlicher Freund, hatte 1903 die Monatsschrift „Hochland“ gegründet.
An der Ostfront, wo die Nationalsozialisten einen brutalen Vernichtungskrieg führen, verarztet der 23-Jährige 1942 Verwundete. Das Leid nimmt ihn mit. „Ich höre nur Tag und Nacht das Stöhnen der Gequälten“, notiert er. Die Kriegserfahrungen in Russland verstärken den Widerstand des Sanitätsfeldwebels Scholl. „Es wuchs und reifte bei ihm die Gewissheit, dass nur ein baldiges Ende des Krieges die Übel des NS-Regimes beseitigen könne“, schreibt Knab.
Wenige Monate später, im Februar 1943, ist Scholls junges Leben sowie das seiner Schwester Sophie und das von Christoph Probst zu Ende. Die Weiße Rose fliegt in München auf. Die Nazis kennen keine Gnade und lassen die Widerständler hinrichten.
Hans Scholl kommt 1918 kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs in der Nähe von Crailsheim in Baden-Württemberg zur Welt. Sein Vater vertritt antimilitaristische Ansichten. Doch dem Sohn gefällt es bei der Hitlerjugend, wo er zum Fähnleinführer avanciert. Bei Gleichaltrigen ist er gefürchtet. Scholls Eifer hat zur Folge, dass er 1935 als Fahnenträger der HJ Ulm beim Reichsparteitag an Hitler vorbeimarschieren darf. Später widerstreben dem Jugendlichen die starren Regeln. Scholl – wissbegierig, energiegeladen und impulsiv, aber auch bisweilen zweifelnd und schwermütig – sucht individuelle Freiräume und findet letztlich den Weg in den Widerstand.
Knab sieht in Scholl den „charismatischen Kopf“ der Weißen Rose. Und doch wird seiner Schwester Sophie in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten mehr Aufmerksamkeit zuteil. Die anderen Mitglieder stehen wiederum im Schatten der Geschwister Scholl, die als Ikonen des Widerstands gelten. ROLAND LORY
Das Buch
„Ich schweige nicht. Hans Scholl und die Weiße Rose“ von Jakob Knab. Wbg Theiss. 272 Seiten. 24,95 Euro.