München – Es ist Donnerstag, 7. November 1918. In den Münchner Kammer-Lichtspielen läuft der Stummfilm „Der Jäger von Fall“, das Isaria-Theater am Baldeplatz spielt „ein sehr fidels Lustspiel“ mit dem Titel „Die Männer sind alle Verbrecher“. Amüsement im Angesichts des Elends. Der Weltkrieg steht vor dem Ende – am 11. November vormittags 11 Uhr werden die Waffen schweigen. Bayern beklagt über 200 000 tote Soldaten. Die Zeitungen sind noch voller Todesanzeigen – Gefallene. Auch die „Münchener Zeitung“ druckt sie: Michael Weber, Infanterist, „im Kriegslazarett sanft verschieden“ – „in tiefstem Schmerze: Michael und Marie Weber, Eltern“. So geht es spaltenweise.
In München hatte der Anführer der kleinen SPD-Linksabspaltung USPD, Kurt Eisner, 51, erst Mitte Oktober das Untersuchungsgefängnis in Stadelheim verlassen, wo er wegen seiner führenden Rolle beim großen „Januarstreik“ der Münchner Rüstungsindustrie monatelang inhaftiert gewesen war. Gebrochen war Eisner durch seine Hafterfahrung nicht. Im Gegenteil: Er stürzte sich sofort in die Vorbereitungen für eine Nachwahl zum Reichstag. Sie war für den 17. November anberaumt – doch dazu kam es nicht mehr.
Schon Eisners erster öffentlicher Auftritt im Schwabingerbräu am 23. Oktober war spektakulär – 2000 Zuhörer. Eine Woche später forderte Eisner vor kaum weniger Teilnehmern im Löwenbräukeller offen die Beseitigung des Kaisertums und aller Monarchien, auch der bayerischen. In früheren Zeiten wäre die Polizei wohl dagegen eingeschritten. Doch jetzt geschah: nichts. Wohl erkundigte sich Bayerns Regierung besorgt beim Vorsitzenden der SPD, Erhard Auer, nach dem Umsturzpotenzial von Eisner und seinen Anhängern. Auer aber wiegelte ab. Überliefert sind seine Worte am 6. November: „Reden Sie doch nicht immer von Eisner. Eisner ist erledigt. Sie dürfen sich darauf verlassen. Wir haben unsere Leute in der Hand.“
Das war – wie sich schon einen Tag später herausstellte – ein Irrtum. Für den Nachmittag des 7. November luden SPD und USPD zu einer Friedenskundgebung auf der Theresienwiese. Die „Münchener Zeitung“ berichtete in einer Meldung, dass sich die SPD dabei „gegen alle Bestrebungen unverantwortlicher Elemente“ wehre, „die auf Unruhen und Ausschreitungen hinzielen“. Nach Lage der Dinge konnten damit nur Eisners Leute gemeint sein.
Die Versammlung begann um 15 Uhr vor zigtausenden Arbeitern und Soldaten. Anders als heute gab es keine Lautsprecher oder Megaphone, sodass auf der riesigen Festwiese mehrere Redner parallel sprachen – in der Mitte an der Bavaria der SPD-Chef Auer, eher am Rande Kurt Eisner. Um ihn scharten sich auffällig viele Soldaten, viele in Marineuniform – Von den Matrosen in Kiel waren ja die ersten Unruhen Anfang November ausgegangen – „Sturmvögel der Revolution“, nannte sie der konservative Historiker Karl Alexander von Müller, der an jenem Tag selbst auf der Theresienwiese war. Nach Eisner redete sein enger Vertrauter Felix Fechenbach. Er sprach entscheidende Sätze: „Soldaten! Auf in die Kasernen! Befreien wir unsere Kameraden! Es lebe die Revolution!“
So kam es: Gegen halb vier Uhr meldete der Polizeipräsident dem Innenminister, dass sich Eisners Anhang, rote Fahnen schwingend, in Bewegung gesetzt hatte. Bei weitem nicht alle der Demonstranten machten mit – das Gros der geschätzt 50 000 ging nach den Reden brav nach Hause. Vielleicht anfangs 1000 bis 2000 aber stürmten zu den Garnisonen, wo sich ihnen immer mehr Personen anschlossen. „Der Zug der Revolutionäre stieß nirgends auf Widerstand. Aus den Kasernen und auf den Straßen erhielt er ständig neuen Zulauf“, schreibt der Eisner-Biograf Bernhard Grau. Die Überrumpelung war geglückt.
Über die Geschehnisse in der Nacht zum 8. November gibt zum Beispiel die „Münchener Zeitung“ vom 9. November (die Ausgabe vom 8. November erschien nicht) Auskunft. „Was wir in den letzten zwei Tagen in München erlebten, war eine Revolution“, schrieb der Chefredakteur („Schriftleiter“) Adolf Schiedt, der später Pressechef von Bayerns rechtskonservativen Ministerpräsidenten Gustav von Kahr werden sollte, im Leitartikel „Das neue Bayern“. Erleichtert notierte er, „im großen ganzen“ seien Gewalttätigkeiten ausgeblieben und „Ruhe und Ordnung“ erreicht worden. „Russische Zustände haben bei uns überhaupt nicht geherrscht und werden nicht herrschen.“ Schiedt tröstete sich damit, dass die SPD an der Regierung beteiligt sei – bekannte Männer, von denen man wisse, „dass sie nicht kleine Kinder zum Frühstück zu verzehren pflegen“.
Abgedruckt sind sodann die Proklamationen, die die Revolutionäre erlassen hatten. Der berühmte Satz „Bayern ist fortan ein Freistaat“ in der ersten Erklärung des Rates der Arbeiter, Soldaten und Bauern „An die Bevölkerung Münchens!“ erschien allerdings nur in einer Extra-Nummer der „Münchener Neuesten Nachrichten“, die als einzige am 8. November gedruckt worden war. In der „Münchener Zeitung“ ist aber Proklamation Nummer 2 zu lesen, die am 8. November auf roten Zetteln auch öffentlich plakatiert worden war – mit den nicht minder berühmten Sätzen: „Die Dynastie Wittelsbach ist abgesetzt! Hoch die Republik!“
Zu lesen ist ferner ein Aufruf an die Soldaten, in jeder Kaserne einen zehnköpfigen Soldatenrat zu wählen – für das autoritär geführte Militär eine unerhörte Neuerung. An die Bauern erging der Appell, weiterhin Lebensmittel an die Städte zu liefern. Unterschrieben hatte das auch Ludwig Gandorfer, Gutsbesitzer und Mitglied der USPD, den Eisner wenige Tage vorher auf seinem Hof in Pfaffenberg besucht und für die Revolution gewonnen hatte.
Auffällig ist, dass die „Münchener Zeitung“ bei der Aufzählung der neuen Regierung Kurt Eisner als „Präsident“ (statt Ministerpräsident) bezeichnete. Die im November 1918 noch gültige bayerische Verfassung kannte kein Ministerpräsidentenamt, wiewohl sich dieser Begriff schon im späten 19. Jahrhundert für den Vorsitzenden des Ministerrats eingebürgert hatte. In den Protokollen der Regierung wurde Eisner ab dem 16. November als Ministerpräsident geführt – „wohl auch um den Anspruch auf Autorität seiner Regierung gegenüber der Staatsverwaltung zum Ausdruck zu bringen“, wie der Historiker Ferdinand Kramer meint.
In der Summe war, wie die Zeitung richtig erkannte, die neue „Republik Bayern“ eine Epochenwende. „Aber so wenig es Zweck hat, ein Gewitter nicht anzuerkennen, so wenig hat es Sinn, eine so elementare Volksbewegung nicht anzuerkennen.“
Da schwang Trauer mit, auch ein wenig Fatalismus. Bayerns alte Ordnung, die 738-jährige Herrschaft der Wittelsbacher, schwand über Nacht.