Garmisch-Partenkirchen – Manchmal kommt sich Till Rehm vor wie auf einem Raumschiff, das ohne Besatzung einsam durchs All schwebt. Wenn er alleine seinen Rundgang macht, die Instrumente kontrolliert, schaut, ob irgendwo ein Lämpchen aufleuchtet, und dann doch feststellt: Wir sind auf Kurs.
Rehm befindet sich mit seiner blauen Fleecejacke und der dicken verspiegelten Sonnenbrille zwar nicht über der Erde, aber immerhin 2650 Meter über dem Meer. Er steht zwischen Schläuchen, Kabeln, Schaltkästen und ein bisschen Schnee auf der Messplattform der Umweltforschungsstation am Schneefernerhaus. 1931 wurde es unterhalb des Zugspitz-Gipfels in die Wand gesprengt und als Luxus-Hotel eröffnet. Seit 1999 dient es der Wissenschaft. Bis zu 20 Forschungsinstitute beobachten dort den Klimawandel, analysieren die Luftqualität und Wolkenzusammensetzungen. Oder sie stellen fest, dass Luftströme aus Kanada, Sibirien und Portugal an Garmisch-Partenkirchen vorbeiziehen. Hier werden Daten generiert, die auch im gestern erschienenen Weltklimabericht (siehe Weltspiegel) eine Rolle spielen.
Rehm und seine Kollegen von der Betriebsgesellschaft sorgen dafür, dass die Infrastruktur mit Gondeln, Laboren, Kantine, Seminar- und Schlafräumen funktioniert. „Wir stellen sicher, dass rund um die Uhr Daten gesammelt werden. Aber es kann auch mal sein, dass wir den ganzen Tag bei minus 20 Grad Schnee schaufeln.“
An diesem Tag ist es fast 20 Grad warm – und nicht einsam im Raumschiff. Dass sich rund 15 Wissenschaftler an Bord befinden, ist ungewöhnlich. Normalerweise bauen sie ihre Messinstrumente auf und sind dann schon wieder weg. Diesmal sind Forscher aus ganz Deutschland, der Schweiz, Skandinavien und Großbritannien zum Netzwerken gekommen. Sie haben sich in einem großen Tagungszimmer – früher der Speisesaal des Hotels – versammelt. Die schwedische Klimawissenschaftlerin Freja Vamborg stellt ihnen das EU-Erdbeobachtungsprogramm „Copernicus“ vor. In der Umweltforschung ist es das Flaggschiff der Europäischen Kommission. Die unzähligen Daten, die am Schneefernerhaus und den vielen anderen Stationen des Kontinents gesammelt werden – zum Beispiel zu Schadstoffen in der Luft – sind für Politiker, Unternehmen, Bürger und Journalisten frei und kostenlos zugänglich. Die Botschaft der Veranstaltung ist eindeutig: Das Wissen zur globalen Erwärmung und den dramatischen Folgen für das Leben auf der Erde liegt fundiert und für alle griffbereit vor. Die Forscher verstehen diesen Schatz aber auch als Appell, als Handlungsanleitung für Regierungen.
„Schnelle, weitreichende und beispiellose Änderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen und ein radikales Umdenken, vor allem im Energiesektor, bei Verkehr und Landwirtschaft“ fordert auch der Weltklimarat IPCC, der gestern im südkoreanischen Incheon seinen Sonderbericht vorstellte. In ihn sind auch Daten des Copernicus-Programms eingeflossen, erklärt Vamborg. „Der Bericht ist viel deutlicher als die vorherigen. Einige Risiken wurden hochgestuft.“ Beispiel: Bei einer Erderwärmung um 1,5 Grad seit Beginn des Industriezeitalters (aktuell liegt sie bei 1,1 Grad) würden 90 Prozent aller Korallenriffe verschwinden. Und diese Marke kann laut dem IPCC-Bericht bereits 2030 erreicht werden.
„Nicht nur Regierungen, auch die Zivilgesellschaft muss sich diesen Bericht zu Herzen nehmen“, sagt Vamborg. Um den eigenen Alltag klimafreundlich zu gestalten, sich vor Naturkatastrophen zu schützen und sich anpassen zu können. Die Expertin macht klar, dass die Menschheit bereits mitten im Klimawandel steckt: „Landwirte müssen auf andere Getreidesorten setzen, in England kann man mittlerweile Wein anbauen.“
Die Folgen sieht man auch von der Messplattform des Schneefernerhauses. Hausherr Till Rehm schaut am Fels hinab und spricht dann „von dem Toteisfeld da unten, das manche noch als Gletscher bezeichnen“. Im Tagungszimmer demonstriert Philipp Rastner, Geograf an der Universität Zürich, den dramatischen Rückzug der über 195 000 Gletscher der Erde mit einem Computermodell. Zwischen sieben und 23 Meter seien die Eisfelder in den Alpen seit 1997 in der Länge zurückgegangen. Rastner verweist auf die Gefahren, die die Schmelze birgt: „Die Gletscher lösen Tsunami-Wellen aus, wenn sie in Seen stürzen.“ Oder in die arktische See – dadurch steigt der Meeresspiegel. Küstenregionen sind weltweit bedroht.
Bevor die Wissenschaftler im Schneefernerhaus Kaffeepause machen, erklärt der Karlsruher Klimaforscher Johannes Orphal, wie sein Team mit einem russischen Spezial-Flugzeug Gase in 20 Kilometern Höhe gemessen hat. Trotz der nicht fassbaren Menge an Klimadaten, die täglich durch die Welt schießen, plädiert er für noch mehr Messungen. Denn: „Sonst fragen unsere Enkel in 20 Jahren: Warum habt ihr nicht mehr getan?“