Zum Welt-Stammzellen-Spender-Tag

„Bayerische Gene gehen immer“

von Redaktion

von Christian Masengarb

München – Eigentlich war die Situation hoffnungslos. Gaurav Baines aus Tipton bei Birmingham hatte bereits die meiste Zeit seiner ersten beiden Lebensjahre im Krankenhaus verbracht, doch die Chancen, in England einen lebensrettenden Stammzellenspender für den leukämiekranken Sohn indischstämmiger Eltern zu finden, waren minimal. Asiaten können eigentlich nur untereinander Stammzellen spenden, der Rest der Welt ist beliebig miteinander kompatibel. Zudem sind manche Gewebemerkmale so selten, dass selbst Gauravs Vater nur zu 50 Prozent als Spender geeignet gewesen wäre – der Höchstwert in der Familie. Die Eltern ließen sich davon nicht entmutigen, erzählten ihre Geschichte unermüdlich in Fernsehen, Radio und Zeitungen, um Asiaten für die Typisierung als Spender zu gewinnen. Alles vergeblich. Ein genetisch geeigneter Amerikaner sprang kurz vor der Entnahme wieder ab. An die Rettung glaubte damals kaum noch jemand. Daran, dass sie am Ende aus Unterschleißheim (Landkreis München) kommen sollte, erst recht nicht.

Dort lebt Stefan Richinger (49). Im Jahr 2013 hatte er zwar noch nie etwas von Gaurav gehört, war aber seit 13 Jahre als Stammzellenspender registriert. Weil sein eigener Sohn gesund war, wollte er Familien helfen, die weniger Glück hatten. Dass er als Ur-Bayer zu einem asiatischen Empfänger passte, war ähnlich unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto.

Auch Richinger hatte die Hoffnung auf eine erfolgreiche Spende fast aufgegeben. Schon einmal wäre er als Spender infrage gekommen, hatte sogar schon den zweiten Check beim Arzt mit Blutentnahme hinter sich. Doch der geplante Empfänger starb kurz vor dem lebensrettenden Eingriff. Richinger hoffte auf eine zweite Chance.

Die war unwahrscheinlich. „Es ist sehr schwer, zwei Menschen zu finden, deren Gewebemerkmale zueinanderpassen“, erklärt Manuela Ortmann von der Aktion Knochenmarkspende Bayern (AKB). „Die AKB verwaltet eine Datenbank mit rund 315 000 potenziellen Spendern, fand aber seit 1989 nur für 4300 von ihnen einen passenden Empfänger.“ Und das, obwohl die bayerischen Stammzellen-Spenden weltweit eingesetzt werden.

Gegen alle Wahrscheinlichkeit bekamen Richinger und Gaurav dennoch die erhoffte zweite Chance. Im Sommer 2013 bekam der Bayer, damals 44 Jahre alt, einen Brief: Es wurde ein neuer Empfänger gefunden, er war zu 100 Prozent als Spender geeignet. An wen er spendet, wusste er nicht. Die AKB behandelt alle Fälle streng anonym. Richinger war das ohnehin egal: „Wer es braucht, kriegt es. Nur das zählt.“

Also ging er im Dezember 2013 zur Entnahme. In 80 Prozent der Fälle erfolgt die mit einem dialyseähnlichen Verfahren, bei dem die Stammzellen aus dem Blut gefiltert werden – ohne ernst zu nehmende Nebenwirkungen. Ist der Empfänger allerdings ein Kind, wird das Knochenmark nach wie vor aus dem Beckenkamm entnommen. So auch bei Richinger. „Die Pikser am Rücken spannen zwei, drei Tage wie ein Muskelkater, aber das merkt man kaum“, berichtet er. „Die Entnahme war neben der Geburt meines Sohns der schönste Tag meines Lebens.“

In England bekam Gaurav die lebensrettende Infusion. Kurz zuvor war sein Immunsystem durch eine Chemotherapie komplett zerstört worden, Richingers Stammzellen bauten es neu auf. Jetzt haben er und der Bayer sogar die gleiche Blutgruppe.

Die Anonymität blieb dennoch zwei Jahre bestehen. „Geht es dem Empfänger schlecht, könnte eine zweite Spende nötig sein“, erklärt Richinger. „Damit der Spender frei entscheiden kann, ob er das will, soll er nicht wissen, um wen es geht.“

Anonyme Briefe vermittelt die AKB dennoch. Der erste traf ein halbes Jahr nach der Spende bei Richinger ein. „Um ein Haar hätten die Baines in Hindi geschrieben“, erzählt er und lacht. „Sie gingen ja weiterhin von einem indischstämmigen Spender aus.“ Weil der Brief aber auf Englisch kam, entstand eine Brieffreundschaft. Nach zwei Jahren gab die AKB die echten Namen heraus – und sorgte für einen Schock: „Die Baines konnten es kaum glauben: Der ist ja weiß!“, erzählt Richinger. „Aber bayerische Gene gehen halt immer.“

Das erste Treffen folgte 2016. „Gaurav muss gemerkt haben, dass uns etwas verbindet“, sagt Richinger. „Eigentlich ist er durch seinen Autismus schüchtern, aber mich umarmte er sofort.“ Seitdem treffen sich die Familien jährlich – wobei die Baines kaum eine Gelegenheit auslassen, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Als ein Cousin Gauravs erfuhr, dass Richinger großer Fußballfan ist, schenkte er ihm eine handsignierte Autogrammkarte von Stürmer-Star Luis Suárez. Auch ein Trikot von Jürgen Klopp gab es schon, zusammen mit zahlreichen Frei-Runden im Pub. „Wenn ich an die Dankbarkeit denke, bekomme ich noch heute Gänsehaut.“

Richinger würde gerne nochmals spenden. Dass es sehr unwahrscheinlich ist, dreimal als Spender ausgewählt zu werden, weiß er. Deswegen wirbt der Fußball-Trainer und Zoll-Mitarbeiter im Verein und auf der Arbeit für die Typisierung. „Stammzellenspender retten mit minimalen Aufwand Leben“, sagt er. „Das sollte jeder machen. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl.“ Auch sein 23-jähriger Sohn Max ist schon typisiert.

Artikel 4 von 15