München/Kreuth – Kurz nach 13 Uhr verkündet der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß im Tegernseer Hotel „Überfahrt“ die Sensation: Die CSU-Landesgruppe im nahen Tagungsort Kreuth hat, so hören es die Journalisten bei Weißwurst und Bier, an diesem Freitag, 19. November 1976, in einer Kampfabstimmung mit 30:18 die Abspaltung von der gemeinsamen Unions-Bundestagsfraktion beschlossen. Er ist der Höhepunkt im Bruderkrieg zwischen Strauß und seinem Freundfeind, dem CDU-Chef Helmut Kohl. Beinahe hätte sie seinen Initiator mit in den Abgrund gerissen.
Denn Strauß unterschätzt Kohl. Für ihn ist der CDU-Mann, „total unfähig zum Kanzler“, wie er in einer internen Rede lästert. Dabei hat die Union gerade die Bundestagswahl mit 48,6 Prozent gewonnen. Strauß bestürzt indes, dass die Union in der Opposition verharren muss, weil die FDP Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) in einer sozialliberalen Koalition stützt. Kohl hält er für ungeeignet, aus dieser verfahrenen Situation je wieder herauszufinden.
Der Pfälzer indes ist schon deshalb beleidigt, weil er vom Trennungsbeschluss nicht durch Strauß oder CSU-Landesgruppenchef Friedrich Zimmermann persönlich informiert wird. „Strauß hatte eigentlich mir die dankbare Aufgabe überlassen, Kohl anzurufen“, erinnert sich Zimmermann 30 Jahre später gegenüber unserer Zeitung. Doch er kam zu spät: Kohl ist bereits im Bilde – wahrscheinlch informiert durch einen CSU-Informanten. Wie sich dann zeigte, hatte der CDU-Vorsitzende mehr Pfeile im Köcher. Unverhohlen droht er mit einer Ausdehnung der CDU nach Bayern und lanciert die Nachricht, seine Partei suche schon eine Immobilie in München.
„Nicht nur Strauß selbst, auch Generalsekretär Tandler hatte die Stimmung in der CSU falsch eingeschätzt“, schreibt der Strauß-Biograf Horst Möller. Zimmermann hatte Strauß zwar darüber informiert, dass in Norddeutschland zahlreiche konservative CDU-Sympathisanten mit dem Übertritt zur CSU liebäugelten. Dass daheim die Mitglieder revoltieren würden, hatte er indes nicht geahnt: Die CSU war, wie sich nun zeigte, keineswegs die Gefolgschaftspartei, die dem großen Vorsitzenden blindlings folgte. So wurde der Trennungsbeschluss revidiert. „Es gab schnell eine Gegenbewegung“, erinnert sich Erwin Huber, damals 30 und Bezirkschef der Jungen Union in Niederbayern. Mandatsträger gingen auf die Barrikaden – viele fürchteten, eine CDU in Bayern werde ihnen Mandate wegnehmen. Im Gegensatz zu heute sei „der Wille zur Gemeinsamkeit“ sehr stark ausgeprägt gewesen. Außerdem, fügt Huber an, ging es damals um keine Sachfrage, sondern um pure Strategie: Strauß suchte nach einer Lösung, um die Union aus einer Sackgasse zu manövrieren – dass die FDP Jahre später das politische Lager wechseln würde, konnte er nicht wissen.
Die Basis hatte für solche Überlegungen kein Verständnis. „Die CSU Mittelfranken ist über die Entscheidung (…) zutiefst bestürzt“, ließ der damalige Bezirkschef Karl Hillermeier die CSU-Zentrale wissen. Er war nicht irgendwer. Seit 1973 war er Justizminister im Kabinett um Ministerpräsident Alfons Goppel. In der Auseinandersetzung um die Wiederaufbereitungsanlage von Wackersdorf sollte er als resoluter Innenminister (Spitzname: Killermeier) Strauß als treue Stütze dienen. Im Konflikt von Kreuth aber, da wollte er Strauß nicht folgen. Entsetzte Briefe trudelten ein. Der Landtagsabgeordnete Georg Fendt aus Friedberg schrieb, bei ihm seien viele „bitter enttäuscht“. Vier von zehn CSU-Bezirksverbänden beantragten einen Sonderparteitag. „Strauß wusste, dass er wegen der Interessen vieler Mandatsträger dort keine Mehrheit finden würde“, so sein damaliger Büroleiter, Wilhelm Knittel aus Grünwald. „Deshalb lenkte er ein.“
Fast zeitgleich geriet Strauß durch seine „Wienerwald“-Rede zusätzlich unter Druck. In Überschwang seines Temperaments hatte er vor JU-Funktionären mit „politischen Pygmäen“ und „Reclamausgaben von Politikern“ in der CDU abgerechnet. „Die Ausfälle vom Wienerwald dürften die Verhandlungsposition von Strauß kaum gestärkt haben“, bemerkt Historiker Möller. Insofern konnte Strauß froh sein, dass er von der CDU nicht genötigt wurde, den Trennungsbeschluss formell zurückzunehmen. Stattdessen wurde er gesichtswahrend für alle „überlagert“ – die CSU erhielt bei anschließenden Verhandlungen zur Umorganisation der Fraktionsgeschäftsführung sogar einen ersten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden zugestanden. Das ist bis heute so.
Doch vor einem Kreuth II schreckt die CSU, wenn nicht alles täuscht, heute zurück. Das sei trotz des Streits um die Flüchtlingspolitik „kaum vorstellbar“, sagt zum Beispiel das CSU-Vorstandsmitglied Reinhold Bocklet, der als damaliger JU-Bezirksvorstand gleichfalls Zeitzeuge von „Kreuth I“ ist. Es gehe jetzt schlicht „um eine Sachfrage“ in der Flüchtlingspolitik, nicht um eine große strategische Leitentscheidung.