München – Jahrelang wohnte Manfred S. (Name geändert) mit seinem Bruder Tür an Tür in der Nähe von München. Bis es für den heute 70-Jährigen nicht mehr auszuhalten war. Der Streit über den Umgang mit drei gemeinsam erworbenen Wohnungen schwelte über 20 Jahre. Am Ende konnten die beiden Brüder nicht mehr miteinander reden. Doch damit nicht genug. Manfred S. wirft seinem Bruder vor, eine 20 Meter hohe Birke auf seinem Grundstück gefällt zu haben, als er selbst im Urlaub war. „Den Baum hatte ich mit meinem Vater gepflanzt.“ Vor ein paar Wochen soll es sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen sein. Manfred S. zeigte seinen Bruder an. Der Höhepunkt eines jahrzehntelangen Nachbarschaftsstreits. Und das auch noch in der eigenen Familie. Manfred S. zog die Reißleine. Seit einigen Tagen wohnt er in einem niederbayerischen Kurort – weit weg von seinem Bruder.
So manche Nachbarn haben die Gabe, sich über die kuriosesten Dinge dermaßen in die Haare zu kriegen, dass es zu unkittbaren Zerwürfnissen kommen kann. Sei es der Wintergarten-Schwarzbau auf der Nachbarsgarage wie kürzlich im Landkreis Fürstenfeldbruck oder der Geruch von frisch gebackenen Semmeln einer Bäckerei in Rottach-Egern am Tegernsee. Der Nachbar muss noch nicht mal ein Mensch sein, um die Bewohner zur Weißglut zu treiben, wie in Holzkirchen zu beobachten war. Dort klagte eine Anwohnerin gegen die Kuhglocken auf der Weide nebenan, weil diese laut wie ein Presslufthammer seien. Seitdem hängt der Haussegen in Holzkirchen schief.
Aber Nachbarschaft muss natürlich nicht zwangsläufig zu Auseinandersetzungen führen – was nicht zuletzt der Tag der Nachbarn zeigt, der heute mit zahlreichen Festen in ganz Deutschland gefeiert wird. Während die große Mehrheit im Freistaat mit ihren Anwohnern sehr gut auskommt oder sich zumindest mit einer gewissen Distanz toleriert, gibt es auch eine ganze Reihe von engagierten Menschen, die sich ganz besonders für ein gutes Miteinander einsetzen. Gerade wenn es um die älteren Mitbürger in der Nachbarschaft geht. Hier wurden in der Vergangenheit einige Projekte ins Leben gerufen, die für mehr Solidarität zu denen sorgen, die sie dringend brauchen.
Eines dieser Projekte ist der gemeinnützige Verein „Dein Nachbar“. Thomas Oeben aus Gräfelfing (Kreis München) hat den Verein vor drei Jahren gegründet, um Ehrenamtliche und Hilfsbedürftige zusammenzubringen. Das Angebot richtet sich an ältere Menschen, aber auch an pflegende Angehörige. „Unsere ehrenamtlichen, aber geschulten Helfer sorgen dafür, dass die Angehörigen auch mal die Zeit bekommen, einen Kaffee trinken zu gehen“, sagt Oeben. „Ohne Sorge haben zu müssen, dass zu Hause etwas schiefgeht.“ Und das zu erschwinglichen Preisen. Über 300 Ehrenamtliche beteiligen sich mittlerweile und können über das Internetportal im Bereich des Landkreises München www.deinnachbar.de vermittelt werden.
Auch die Ehrenamtlichen profitieren: Sie können statt einer Aufwandsentschädigung auch Punkte sammeln, falls sie einmal selbst Hilfe brauchen. So wie Oebens älteste Helferin: Die 93-Jährige engagierte sich in dem Verein – nun ist sie selbst auf Unterstützung angewiesen. „Jetzt versorgen wir sie“, sagt Oeben nicht ohne Stolz.
In Brannenburg im Inntal ist sogar ein ganzes Dorf im Zeichen der Nachbarschaftshilfe entstanden. In dem Wohnprojekt sollen bis 2020 etwa 800 Menschen generationenübergreifend leben und voneinander profitieren. Das Ziel: Jeder Bewohner bietet etwas – ganz egal ob eine Fahrgemeinschaft, Nachhilfeunterricht oder eine Schafkopfrunde. Dadurch sollen alle Bewohner in Kontakt kommen. „Die Welt ist sehr anonym geworden“, sagt Rupert Voß, der Geschäftsführer des Projekts „Dahoam im Inntal“. Diese Anonymität soll in Brannenburg wieder aufgehoben werden. Ganz nach dem Motto: Man kennt sich. Und man hilft sich. Am besten ohne Zivilprozesse, Handgreiflichkeiten und umgesägte Birken.