Der italienische Jude Primo Levi war 1943 als Partisan von einer faschistischen Miliz gefangen genommen und schließlich in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert worden. Er überlebte mit viel Glück. Nach seiner Befreiung begann für ihn eine mehrmonatige Odyssee, die er in seinem Buch „Die Atempause“ eindringlich beschrieben hat und die ihn auch nach München und Garmisch-Partenkirchen führte. Sein Buch hebt sich aus den Zeugnissen anderer Holocaust-Überlebender ab, deren Berichte ja meist mit der Befreiung enden. Levi indes schrieb ein eigenes Buch über die Nachkriegswirren – über eine Reise angefüllt mit Chaos, Hunger, aber auch Glück und Aufatmen.
Am 27. Januar 1945 wurde Primo Levi von der Roten Armee befreit. „Wir waren etwa 800, die im Krankenhaus von Buna-Monowitz zurückblieben“, berichtet Levi. „Davon starben ungefähr 500 infolge von Krankheiten, erfroren oder verhungerten, noch ehe die Russen kamen.“ Weitere 200 „starben trotz aller Hilfe in den unmittelbar folgenden Tagen“. Primo Levi gehört also zu den glücklichen 100, die die Strapazen überleben. Teils per Zug, zu Fuß oder mit Pferdefuhrwerken schlagen sich die Überlebenden zunächst ins nahe Krakau durch. Von dort geht es immer weiter nach Osten. Hunderte Kilometer weit bis nach Weißrussland.
Am Ende landet er mit hunderten anderen Holocaust-Überlebenden westlicher Staaten in einem Zug, der von den Russen offenbar mit dem Ziel zusammengestellt worden war, die (aus ihrer Sicht) heimatlosen Ausländer irgendwie loszuwerden. „Mit einer lächerlichen Geschwindigkeit von 40 bis 50 Kilometern in der Stunde“ fährt dieser Zug über Wochen langsam südwärts, fast bis zum Schwarzen Meer. Danach wechselt er die Richtung und fährt über Rumänien, Ungarn und Österreich nach Westen. Über die vielen, oft tagelangen Zwischenstopps berichtet Levi in seinem Buch ausführlich. Hier interessant sind seine Schilderungen am Ende des Buches, als der Zug über Wien und Braunau, wo die Insassen mit DDT-Pulver desinfiziert werden, schließlich München erreicht.
Damit sind die Holocaust-Überlebenden in Deutschland, dem Urheberland von all dem Schrecken, den sie durchlebt hatten. „Uns schien“, schreibt Levi, „als hätten wir jedem einzelnen Deutschen etwas zu sagen, ungeheuerliche Dinge zu sagen.“ – „Wussten sie von Auschwitz, vom verschwiegenen täglichen Massenmord direkt vor ihren Türen?“ Wenn nicht, fährt Levi fort, müssten sie alles erfahren. Levi will erzählen, er hätte wohl nur so gesprudelt von Erzählungen. All der Schrecken wollte raus. „Die tätowierte Zahl auf meinem Arm brannte wie eine Wunde.“
Aber niemand will etwas wissen, niemand fragt die KZ-Überlebenden – vielleicht verständlich, denn die Münchner haben ihre eigenen Nachkriegssorgen. Aber Primo Levi kann es nicht verstehen. Die Münchner, schreibt er, „waren taub, blind und stumm, eingeschlossen in ihre Ruinen wie in eine Festung gewollter Unwissenheit, noch immer stark, noch immer fähig zu hassen und zu verachten, noch immer Gefangene der alten Fesseln von Überheblichkeit und Schuld“ – so sieht er das.
Die Reise geht bald weiter, von München aus fährt ein Zug mit 61 Waggons nach Garmisch-Partenkirchen. Mit im Zug sind jetzt junge Zionisten, gleichfalls Holocaust-Überlebende aus allen Ländern Osteuropas, die sich in Bari nach Palästina einschiffen wollen. Bald ist ein „Sammellager“ in Mittenwald erreicht – Levi meint wahrscheinlich eine damals bestehende Sammelunterkunft für Displaced Persons. „Es lag inmitten von Bergen an der österreichischen Grenze und war im Zustand märchenhafter Unordnung“, heißt es im Buch. Eine Nacht bleibt auch Primo Levi dort. Über Innsbruck und den Brenner fährt der Zug weiter. Am 17. Oktober 1945 trifft er im Lager Pescantina bei Verona ein. Zwei Tage später ist er im Haus seiner Familie in Turin.
Primo Levi hat den Bericht „Die Atempause“ 1961/62 geschrieben. Es ist ein Buch über die Befreiung, aber es ist kein fröhliches Buch. Zu schwer wog die Erinnerung. Von 650 Personen, die mit Levi nach Auschwitz deportiert worden waren, kehrten drei zurück. „Es dauerte noch viele Monate, bis ich die Gewohnheit verlor, den Blick beim Gehen stets auf den Boden zu heften, als sei ich immer auf der Suche nach Eßbarem“, schreibt Levi in einem kurzen Nachwort, in dem er auch über einen wiederkehrenden Traum berichtet: „Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehen – Wstawac.“
Diese Stimme sollte den Holocaust-Überlebenden nie mehr loslassen. Primo Levi, der später Chemiker wurde, starb 1987 durch einen Sturz in den Treppenschacht seines Wohnhauses. Man nimmt an, dass es Selbstmord war. dirk walter