Holzkirchen – Der Wind weht kalt über den Marktplatz in Holzkirchen. Es gäbe bessere Orte, um eine Erkältung auszukurieren. Aber Claudia Stamm kann mit Gegenwind umgehen. Sie hat sich ihre dicke Winterjacke angezogen, eine Wollmütze aufgesetzt und ist an diesem Samstagmorgen noch etwas verschnupft von Ottobrunn in den Kreis Miesbach gefahren, um Flyer zu verteilen. Um mit so vielen Menschen wie möglich ins Gespräch zu kommen. Um ihre mut-Partei in Bayern bekannter zu machen.
Zielstrebig geht sie auf einen Rentner zu, der vom Markt kommt. „Darf ich Ihnen eine Infobroschüre mitgeben?“ fragt sie. Der Mann bleibt stehen, mustert erst den kleinen Stand unter dem Pavillon, an dem die mut-Plakate angebracht sind, dann die Frau mit dem entschlossenen Lächeln, die ihm einen Flyer entgegenstreckt. „Schon wieder eine neue Partei?“ fragt er skeptisch. „Ja, wenn sich die alten Parteien so sehr verändern, brauchen wir doch was Neues“, sagt Stamm. Der Mann nimmt die Broschüre kommentarlos, steckt sie ein und geht weiter. Nicht ahnend, dass es die Parteigründerin persönlich ist, mit der er gerade gesprochen hat.
Vor einem Jahr gab es in Claudia Stamms Leben noch keine kalten Vormittage auf bayerischen Marktplätzen. Sie musste weder Flyer verteilen, noch Mitglieder anwerben. Damals zählte die Tochter der Landtagspräsidentin Barbara Stamm zu den bekanntesten Grünen im Bayerischen Landtag. Acht Jahre lang war sie Abgeordnete. Doch seit Monaten haderte sie sehr mit dem Kurs ihrer Partei – vor allem mit deren Haltung in asylpolitischen Fragen. Mit Zustimmung der Grünen sei das Asylrecht massivst ausgehöhlt worden, kritisierte sie damals – und verkündete überraschend ihren Austritt aus der Partei.
Seit genau einem Jahr sitzt sie als fraktionslose Abgeordnete im Landtag. Und kämpft dafür, ihre neue Partei bei der Wahl im Herbst über die Fünf-Prozent-Hürde zu hieven. Ob sie das schaffen wird, ist sehr fraglich. Die mut-Partei hat zwar inzwischen 190 Mitglieder – aber bisher erst die Hälfte der nötigen Kandidaten für alle 90 Stimmkreise zusammen. Erst wenn die Listen erstellt sind, darf die Partei anfangen, die 8000 Unterstützer-Unterschriften zu sammeln, die sie braucht, um zur Wahl antreten zu können. Die Unterschriften bereiten Claudia Stamm am wenigsten Sorgen – die Kandidatensuche ist die große Herausforderung. „Wenn wir uns flächendeckend in Bayern aufstellen können, haben wir gute Chancen, die fünf Prozent zu schaffen“, sagt sie selbstbewusst. „Denn das Wählerpotenzial ist da.“
Davon ist die 47-Jährige so überzeugt, weil sie seit Monaten Stammtische überall in Bayern organisiert, um mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen. Mal sitzt sie mit 70 Menschen zusammen wie neulich in München – manchmal mit sieben wie an diesem Tag in Holzkirchen. Jedes Mal erklärt sie aufs Neue, warum sie sich vergangenes Jahr mit einigen Vertrauten zusammengetan hat, um eine neue Partei zu gründen, die sich für mehr soziale Gerechtigkeit, für menschenwürdige Asylpolitik und ökologische Nachhaltigkeit einsetzt. „Es war Zeit zu handeln“, sagt sie. „In unserer Gesellschaft gibt es einen massiven Rechtsruck. Wir brauchen eine Partei, die sich klar dagegen positioniert.“ Claudia Stamm will unbequeme Fragen aufwerfen, das betont sie immer wieder. Zum Beispiel, ob die Entscheidung über die Ausweisung neuer Gewerbegebiete nicht besser bei den Bezirken als bei den Kommunen angesiedelt wäre, um den Flächenverbrauch gering zu halten. „Natürlich ist der Aufschrei groß, wenn man solche Überlegungen einmal offen ausspricht“, sagt sie. Aber das könne sie aushalten, solange dadurch zumindest eine Diskussion entstehe.
Obwohl nur sieben Holzkirchner gekommen sind, die mehr über die neue bayerische Partei erfahren wollen, wird an diesem Tag leidenschaftlich diskutiert. Über das Wohnungsproblem, über unkontrolliertes Wachstum, Flächenfraß und die nicht mehr erteilten Arbeitsgenehmigungen für Flüchtlinge. Ob sie neue Mitglieder gewonnen hat, weiß Claudia Stamm dennoch nicht, als sie nach drei Stunden den Stammtisch verlässt.
Ihr Terminkalender ist voll mit weiteren Infoständen, Stammtischen und Aktionen. Voller als er früher war, als sie ihr Engagement noch den Grünen widmete. Ein wenig leichter habe sie es sich schon vorgestellt, eine neue Partei in Bayern zu etablieren, gibt sie zu. Bereut hat sie ihre Entscheidung aber nicht. „Es geht mir heute besser als vor einem Jahr“, sagt sie. „Ich bin wieder im Reinen mit mir – das war ich nicht während der Monate, in denen ich mit meiner Parteizugehörigkeit bei den Grünen gehadert habe.“ Damals, bei ihrem Austritt und der mut-Gründung, sei sie von vielen belächelt worden. Von manchen bis heute. Andere sagten, der Schritt sei mutig. Claudia Stamm sagt: „Für mich war er nicht mutig. Für mich war er nötig.“
Wäre sie bei den Grünen geblieben, wären ihre Chancen sehr hoch gewesen, im Herbst wieder einen Sitz im Landtag zu bekommen. Sollte es ihr nicht gelingen, ihre mut-Partei über die Fünf-Prozent-Hürde zu bringen, würde das für Claudia Stamm erst mal das Ende als Berufspolitikerin bedeuten. „Darüber mache ich mir keine Sorgen“, sagt sie. „Ich habe zehn Jahre als Redakteurin gearbeitet, bevor ich Politikerin geworden bin – irgendwas wird sich schon ergeben.“ Dass sie den nötigen Mut für einen Neuanfang hätte, hat sie schon bewiesen.