Zwei Bayern brechen aus

von Redaktion

Von Nabila Abdel aziz

Max Baudrexl, 35, rennt den Hang hinunter. Er springt über Erhebungen, streckt seinen Oberkörper nach vorne, breitet die Arme zur Seite aus wie Flügel und zieht seine Finger fest um die Griffe, die er rechts und links in den Händen hält. Noch einmal tritt er auf, dann hebt er ab. Er gleitet über Baumreihen, bis er das Chiemgautal sehen kann. Sein Gleitschirm trägt ihn. Das schönste Gefühl der Welt.

Früher konnte Baudrexl nur am Wochenende zum Fliegen gehen. Jetzt nimmt er manchmal mehrere Male am Tag die Seilbahn zur Kampenwand hinauf. Er hat Zeit dafür, weil er vor ein paar Monaten seinen Bürojob gekündigt hat. Nun ist er selbstständig, macht Hochzeitsfilme und Videomarketing-Projekte – und er bietet Tandemflüge an, um anderen seine Leidenschaft näherzubringen. Er wollte von zwei Dingen mehr haben, sagt er: Freiheit und Zeit. Max Baudrexl sagt, die Generation seiner Eltern war noch damit beschäftigt, das Land aufzubauen, musste schnell Geld verdienen. Seine Generation habe die Freiheit, sich entscheiden zu können. Trotzdem entschieden sich viele für ein gewöhnliches Angestelltenverhältnis. Und das führe nach dem Berufseinstieg schnell zu Ernüchterung: „Man reißt sich den Arsch auf, damit Unternehmen Geld sammeln können. Und die meisten finden ihre Jobs langweilig und wenig erfüllend.“ Baudrexl sagt, viele würden gerne aus herkömmlichen Arbeitsverhältnissen ausbrechen, aber nur wenige wagten den Schritt wirklich.

Auch bei ihm hat es lange gedauert, bis er dazu bereit war. Sechs Jobs bei unterschiedlichen Firmen und Behörden hat er nach seinem Studium des Kommunikationsmanagements hinter sich gebracht: als Projektmanager, Public Relations Manager, Kommunikationsreferent und in der Pressearbeit. Es war nicht so, als wären alle Jobs furchtbar gewesen, sagt Baudrexl. Er merkte nur, wie er immer unglücklicher wurde: „Oft ging es nur ums da sein, nicht darum, ob wirklich Arbeit da war. Das, was wir leisteten, war nicht greifbar.“ Oft hatte er aber auch zu viel zu tun, Arbeiten, die er als Einzelner nicht leisten konnte. Bei seiner vorletzten Stelle bei einer Behörde musste er ohne Einarbeitungszeit ein großes Event organisieren, inklusive Musikauftritte, Catering und Reklame. „Da bin ich eines Tages am Schreibtisch in Tränen ausgebrochen.“

Bei Franca Prötzl, 26, war das ähnlich. Die blonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, befüllt sie ein Tablett mit warmen, selbst gebackenen Zimtschnecken. Die 26-Jährige leitet ihr eigenes Café, das Café Franca. Doch die Wege dorthin waren verschlungen. Nach einem Studium der Betriebswirtschaft ergatterte sie schnell einen guten Job bei einer mittelständischen Firma im Personalbereich, für viele andere ein Traum. Für sie war es bald das Gegenteil.

Sie bekam schnell viel Verantwortung, managte ein kleines Team – und war, wie sie sagt, todunglücklich: „Ich hatte viel zu wenig Wissen und Erfahrung für die vielen Verpflichtungen.“ Franca Prötzl machte Überstunden, arbeitete, bis ihr Körper rebellierte. Sie bekam Ausschlag und Kopfschmerzen. Gleichzeitig kam sie sich vor wie eine „Menschenverschleißerin“. Sie habe für alles zu wenig Zeit gehabt, besonders, um den Bewerbern, die sie interviewen musste, gerecht zu werden. „Alle Menschen, die mir nahestehen, haben gemerkt, mir geht es nicht gut. Ich hatte alle Lebensfreude verloren.“ Beide, Baudrexl und Prötzl, hatten zuerst keine ausgereiften Plan für die Selbstständigkeit. Sie wussten nur, wie unerfüllt und eingeschränkt sie sich durch ihre Berufe fühlten.

Die Soziologin Sarah Nies vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München bezweifelt, dass das an der Generation liegt. „Die Arbeitswelt verändert sich. Stress und Druck werden größer, es wird wieder länger gearbeitet“, sagt sie. „Das betrifft alle Arbeitenden, selbst wenn junge Menschen von diesen Veränderungen besonders betroffen sind.“

Der entscheidende Unterschied sei dagegen das Alter, in der sich die sogenannte Generation Y gerade befindet. Diese Menschen sind jetzt höchstens Mitte 30, haben oft noch keinen Kredit, der abbezahlt werden müsste, oder Kinder, deren Ausbildung zu finanzieren ist – die Verpflichtungen sind geringer und der Wille zum Risiko größer.

Das bestätigt auch Baudrexl. Seine Eltern seien zwar in einer anderen Zeit aufgewachsen, in der sie den Schritt aus dem sicheren Angestelltenverhältnis nicht gewagt hätten – ähnliche Sehnsüchte hätten sie dennoch gehabt. Einen kleinen Unterschied zur Generation der Eltern sieht Soziologin Nies aber dennoch. Die Generation Y besitze großes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten: „Sie glauben an ihre eigenen Stärken. Sie sehen ihre individuelle Zukunft positiv.“

Für Baudrexl musste aber erst das Fliegen in sein Leben kommen, um ihm den Mut zum Ausstieg zu geben. Während eines Ski-Urlaubs unterhielt er sich mit einem Skilehrer. Der erzählte von seinem Sohn, der Gleitschirm fliegt. Drei Tage später rief er bei einer Flugschule an und meldete sich für einen Kurs an. „Das hatte bis dahin außerhalb meines Horizonts gelegen. Selbstständigkeit bedeutet, die Komfortzone zu verlassen. Genauso wie das Fliegen“, sagt Baudrexl.

Diese Komfortzone verließ auch Franca Prötzl, als sie ihren Schreibtisch im großen Unternehmen gegen Kaffeemaschine und Tresen tauschte – sie hatte keine gastronomische Ausbildung oder Erfahrung. Nach ihrer Kündigung hatte sie zuerst keine Ahnung, was sie machen wollte. Franca Prötzl reiste durch Thailand, Kambodscha und Spanien und fühlte sich zum ersten Mal wieder lebendig. Nur was sie beruflich machen wollte, wusste sie nicht.

Auf die Idee für ein eigenes Café kam sie durch einen Zufall: Auf einem Spaziergang durch ihr Viertel bog sie zusammen mit ihrem Freund in eine Straße ein, in der sie vorher noch nie war und stand plötzlich vor einem Café: ein kleiner, intimer Raum, große Fenster, Vintagesessel. Franca sagt, in diesem Moment wusste sie: „Das ist mein Traum.“ Sie betrat das Café und fragte, ob sie dort als Aushilfe arbeiten könnte. Sie konnte. Und in einer ungemein glücklichen Fügung fragte ihre Chefin sie nach ein paar Wochen, ob sie das Café übernehmen wolle. Franca unterdrückte die Zweifel und sagte zu. Heute arbeitet sie noch mehr als früher, aber ihr neuer Job sei beglückend.

Das Café ist zu einem sozialen Treffpunkt geworden, sagt Franca Prötzl. Mittlerweile kennen sie viele in dem Viertel, sie backt immer noch alles selbst. Franca Prötzl hat in dem Café ihre eigene kleine Welt geschaffen: Auf allen Tischen stehen Vasen mit Rosen, die Menüs sind handgeschrieben, an der Wand hängen Kronleuchter. Viel Gold, viel Rosa, viel Vintage. Es gibt kein WLAN, es soll kein Ort „für ein schnelles Instagram-Foto sein, sondern ein Ort zum Runterkommen“.

Baudrexl und Prötzl haben in ihrer Selbstständigkeit weder mehr Geld noch prestigeträchtigere Jobs als davor. Dafür müssen sie keine Dinge mehr verkaufen, hinter denen sie nicht stehen. Baudrexl sagt: „Ich arbeite jetzt für meine eigenen Ziele und nicht mehr für die Ziele anderer. Damit bin ich zufriedener.“ Er studiert nebenbei an der Bayerischen Akademie für Fernsehen, um eines Tages nur noch vom Filmemachen zu leben. Das wäre sein Traum.

In Francas Café steht ein Schild, auf dem steht: „Die schönsten Augenblicke im Leben werden uns einfach so geschenkt.“ Prötzl und Baudrexl mussten sich erst mal von einigem befreien, um diese Augenblicke zu finden.

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