DER CHRONIST DES NSU-PROZESSES

413 Prozesstage – und keinen versäumt

von Redaktion

von Nina gut und Dirk Walter

München – Als der Polizist Martin A. in den Zeugenstand trat, da kamen Thomas Hauzenberger fast die Tränen. Martin A., das ist der überlebende Polizist von Heilbronn. Die beiden NSU-Täter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben ihm am 25. April 2007 in den Kopf geschossen. A. überlebte schwer verletzt, seine Kollegin Michèle Kiesewetter starb. Ein eiskalter Mord – vermutlich nur, weil die beiden Täter die Polizeiwaffen rauben wollten.

An jenem Januartag 2014 konnte der Polizist im Saal A 101 des Münchner Strafjustizzentrums nicht viel sagen. Das war verständlich bei einem Mann, in dessen Kopf bis heute ein Projektilteil steckt. Aber Thomas Hauzenberger fand den Auftritt imponierend. „Der Mann hat sich etlichen Talkshow-Einladungen konsequent verweigert, er hat nie Interviews gegeben.“ Ihm wurde wieder einmal klar, wie viel Leid das mordende Duo Böhnhardt und Mundlos hinterlassen hat. Oder war es ein Trio – mit der angeklagten Beate Zschäpe als Rädelsführerin und „Sphinx“ im Hintergrund? So nennt sie Thomas Hauzenberger manchmal. Aber er ist sich auch nicht ganz sicher, wie dominant Zschäpe bei den Mordplänen beteiligt war.

Wer aber ist nun jener Hauzenberger, der da Tag für Tag im NSU-Prozess auf der Zuhörerbank Platz nimmt? Seit nun schon fast fünf Jahren. An bisher 413 Tagen. Und natürlich auch am Donnerstag, dem 414. Tag, wenn der NSU-Prozess nach längerer Pause wieder startet.

Hauzenberger, 54, ist Fotograf, meist als Hobby, manchmal auf Honorarbasis. Fast täglich macht er Fotos vom NSU-Prozess. Eine große Fotodokumentation will er herausgeben. Seit einem guten Jahr beliefert er als Autor „Spiegel-Online“ mit Informationen zum NSU-Prozess. Reich wird man damit nicht, so viel ist klar. Früher jobbte er bei der Post. Er hilft auch als Mesner in der evangelischen Gemeinde in Nymphenburg aus. „Manchmal komme ich mir vor wie eine prekäre Existenz“, bekennt er.

Es fing wohl damit an, dass Hauzenberger 1988 nach Bielefeld reiste, wo gerade der Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des Vernichtungslagers Majdanek stattfand. Rechtsextremisten hatten den jungen Geschichtsstudenten schon immer interessiert. Es war wohl halb protokollarisches Pflichtbewusstsein, halb wissenschaftliche Neugier. „Ich fand es sensationell, mal einen NS-Prozess zu besuchen“, sagt er. Doch dort stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass das Verfahren überhaupt keine öffentliche Wahrnehmung erfuhr. Dabei redeten sich die Überlebenden zweier Vernichtungslager ihr Leid von der Seele. Dass dies niemanden interessierte, empörte Hauzenberger. Deshalb gründete er eine Zuschauergruppe, die den Prozess protokollierte. Der Beginn einer Mission. Weitere Prozesse folgten: Stuttgart, dann München – die Prozesse gegen NS-Schergen wie Anton Malloth oder John Demjanjuk. Dazwischen erlangte Hauzenberger in Münchner Studentenkreisen fast Berühmtheit – als er im Jahr 1996 aufdeckte, wie ein Politologie-Dozent am Geschwister-Scholl-Institut rechtsradikale Reden schwang.

Wer ihn damals kannte, der dachte, dass Hauzenberger nun Karriere macht. Im Journalismus vielleicht. Oder in der Wissenschaft. Aber Hauzenberger, der im Uni-Seminar meist mit schweren Packen Büchern im Rucksack erschien, interessiert sich halt für alles: Für jüdische Geschichte. Für Politik. Für den Holocaust. Die Täter, die Opfer. Ziemlich viel, wenn man das alles mit wissenschaftlicher Akribie ergründen will.

Manchmal kommt er kurz vor knapp etwas abgehetzt in den Saal, aber immer noch rechtzeitig. Er setzt sich auf einen der orangefarbenen 70er-Jahre-Sitze, legt seinen Laptop auf den Schoß und setzt seine Lesebrille auf. So sitzt er dann da, mit weißem Hemd und Pullover. „Sklavisch protokollieren“ will er alles. Mehr als 5000 Seiten sind es nun schon. Gesammelt an bisher 413 Verhandlungstagen. „Einmal war ich vormittags beim Zahnarzt, da ist mir ein Zahn rausgebrochen“, sagt er bedauernd. Und einmal ist er nachmittags früher gegangen. Hauzenbergers Arbeit ist einzigartig – und wahrscheinlich für die Nachwelt wertvoll. Denn ein offizielles Wortprotokoll gibt es in deutschen Strafprozessen nicht. Mitprotokolliert werden nur Formalitäten, etwa Beschlüsse. Das findet Hauzenberger anachronistisch. Vielleicht wolle ja doch jemand nachlesen, wie der größte Neonazi-Prozess, den es in der Bundesrepublik Deutschland je gab, abgelaufen ist. Oft ist es auch sehr ermüdend, das gibt Hauzenberger zu. Wenn sich ein Antrag an den nächsten reiht, eine Beratungspause der nächsten folgt. Außer ihm gibt es wohl keinen, der sich das durchgehend antut. Höchstens ein Verehrer von Beate Zschäpe, der meist in der ersten Reihe sitzt. Aber auch der fehlt manchmal. Die Dauerbesucher im Gericht, bei Insidern auch „Rentner-Gang“ genannt, meiden den zähen NSU-Prozess. „Naaa, das interessiert mich nicht“, sagt einer von ihnen und winkt ab. Die „Rentner-Gang“ interessiert sich mehr für spektakuläre Mordprozesse oder skurrile Streitereien am Amtsgericht.

Im Gegensatz zu Hauzenberger. Herrscht großer Andrang, kann er auch in den Pausen den Sitzungssaal nicht verlassen. Sonst ist der morgens ergatterte sichere Sitzplatz weg. Verpflegung gibt es nicht. Nur einen Wasserspender und einen Kaffeeautomaten. „Wir werden karg gehalten“, sagt Hauzenberger. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist das Verfahren. „Mich interessiert dieser Justiz-Apparat, der manchmal etwas steril wirkt.“ Wenn Thomas Hauzenberger über die Justiz redet, über knifflige juristische Probleme wie die dependente Persönlichkeit, über den Unterschied von Mittäterschaft und Beihilfe bei Mordfällen – dann könnte man meinen, da sitze ein veritabler Kenner von Strafprozessen vor einem, halb Psychologe, halb Richter, aber mit mindestens dem ersten Staatsexamen. Hauzenberger hat aber ein Diplom in Politologie. Es gehe schon teils familiär zu, sagt er, es herrsche eine Verbundenheit im Gericht. Allerdings nicht zur Angeklagten Zschäpe.

Man kann mit Hauzenberger lang über die schier unendlichen Verästelungen des NSU-Prozesses reden, in dem ja nicht nur Zschäpe angeklagt ist, sondern vier weitere mutmaßliche Täter aus dem damaligen NSU-Umfeld. Der vermutliche Waffen-Beschaffer Ralf Wohlleben etwa, dessen Gebaren als „ewige Friedenstaube“ Hauzenberger abstößt. Bei dem ebenfalls mutmaßlichen Terror-Helfer André E. denkt Hauzenberger gleich an dessen Tätowierung „Die Jew Die“ – „Stirb Jude Stirb“. Das sage wohl alles.

Viel wichtiger sind ihm die Opfer. Ihre Auftritte als Zeugen vor Gericht seien „Gänsehauttage“, findet Hauzenberger. „Diese Leute sind gezeichnet“, ein Leben lang. Da ist der junge Bankangestellte, dem Böhnhardt oder Mundlos – man weiß es nicht – bei einem ihrer Banküberfälle in den Bauch geschossen hat. Eine andere Frau erlitt bei einem dieser Überfälle schwere Kopfwunden. Das werde von den Medien viel zu wenig gewürdigt. Da ist die Geschichte von Abdulkerim Simsek, dem Sohn des Blumenhändlers und ersten Opfers Enver Simsek, der am 9. September 2000 an seinem Stand an einer Nürnberger Ausfallstraße ermordet wurde. Der Sohn bewachte seinen Vater tagelang, solange dieser im Koma in der Klinik lag. „Die Familie hat ihren Mittelpunkt verloren.“ Oder die Aussage von Mashia Malayeri, die als 19-Jährige bleibende Wunden im Gesicht erlitt – durch einen vom NSU verübten Bombenanschlag in Köln. Sie wurde Ärztin. Als sie gefragt wird, ob sie Deutschland verlassen wollte, sagte sie: „Ich habe hier studiert. Das ist mein Land.“ „Ich fange fast schon wieder zu weinen an“, sagt Hauzenberger, als er davon erzählt, und kann tatsächlich seine Tränen nur mühsam unterdrücken.

Nun folgen in den nächsten Wochen die Plädoyers der Verteidiger und die Schlussworte der fünf Angeklagten. Im Anschluss daran kann das Gericht urteilen. Wann das sein wird, kann niemand sagen. Zu oft hat sich der Prozess verzögert. Deshalb hat der Vorsitzende Richter Manfred Götzl den Saal vorsorglich bis Januar 2019 reserviert. Doch irgendwann wird der Prozess zu Ende sein. Davor, sagt Hauzenberger, habe er „ein bisschen Angst“.

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