München – Als „Wintervögel“ bezeichnet man in den USA Menschen, die vor der kalten Jahreszeit in die warmen Wüstenstaaten Arizona und Kalifornien flüchten. Ganze Camper-Städte entstehen dort jeden Herbst – und damit auch ein neues, provisorisches Gemeinschaftsleben. Ein ähnliches Phänomen erleben wir jedes Jahr in Bayern – allerdings sind unsere Wintergäste tatsächlich Vögel: Arten des hohen Nordens, der Tundra und der eurasischen Steppen, die am Alpenrand ein angenehmes Winterklima vorfinden. „Warm“ ist eben immer relativ und „Süden“ eine Frage der Perspektive.
Manche der gefiederten Nordlichter mischen sich unauffällig unter unsere bayerischen Vögel. Andere bleiben lieber unter sich und ziehen in Schwärmen weiter, ohne allzu sehr mit den Alteingesessenen in Kontakt zu kommen. Mit den ersten Frühlingsstrahlen verschwinden die Wintergäste meist unbemerkt wieder in ihre nördlichen Heimatländer.
Darum ist jetzt die beste Zeit, um die Vögel, die bei uns überwintern, zu beobachten. Eine gute Gelegenheit bietet die „Stunde der Wintervögel“ vom 5. bis 7. Januar. Wer mitmacht, könnte so manchen Exoten zu Gesicht bekommen.
Der Birkenzeisig
Die kleinen, grau-braun gestreiften Finkenvogel brüten auch in Bayern, sind hier im Sommer jedoch eher spärlich anzutreffen und schwer zu entdecken. Auffällig werden die niedlichen, etwas schlitzäugigen Vögelchen mit dem schwarzen Kinnfleck und dem roten Scheitel erst im Winter. Dann nämlich, wenn Verstärkung aus dem Norden eintrifft. Je nach Nahrungsangebot in den Brutgebieten Skandinaviens und des nördlichen Eurasiens können Birkenzeisige dort nämlich ausharren, im Winter weit umherstreifen oder schon im Herbst bis nach Bayern vordringen und die hiesige Verwandtschaft besuchen.
Dann kann man sie selbst in Gärten und Parks der Innenstädte beobachten, wie sie akrobatisch durch die Äste turnen, immer auf der Suche nach ihrer Leibspeise, den Birkensamen. An Futterhäuschen schließen sie sich gerne Grünfinken an, denn die sind beim Futtern rechte „Saubeutel“ und lassen reichlich Krümel runterfallen. Die Birkenzeisige picken dann fleißig am Boden auf, was in der richtigen Größe für kleine Zeisigschnäbelchen vom Himmel regnet.
Die Rotdrossel
Amsel, Singdrossel und Wacholderdrossel dürften vielen Menschen in Bayern bekannt sein. Die kleinere Cousine aus dem Norden aber, die Rotdrossel, kann man bei uns nur im Winter sehen. Dann mischt sie sich unter die Drosselverwandtschaft, die Gesellschaft anderer Vogelarten sucht sie aber nicht unbedingt. Mit der markanten Kopfzeichnung und den rostroten Flanken ist sie ein echter Hingucker.
Obwohl die Rotdrossel in ihrem Brutgebiet in Nordeuropa, Skandinavien und Sibirien am liebsten nordische Birken-, Weiden- und Erlenwälder bewohnt, findet man sie im Winter bei und auch auf Feldern und Wiesen, wo sie eifrig nach Regenwürmern und Insekten sucht. Sie stürzt sich aber auch begeistert auf Beeren und schätzt ganz besonders die Früchte der Weißdornsträucher.
In Gärten kann man mit ein paar ausgelegten Äpfeln ein Alternativangebot schaffen, das allerdings mit Amseln oder Staren geteilt werden muss. Dann kann es natürlich schon mal zu Zoff kommen. Aber das ist kein Problem für die kleine Rotdrossel: Sie lässt sich von der größeren Konkurrenz nicht die Butter vom Brot nehmen.
Die Saatkrähen
Aus Russland besuchen uns die Saatkrähen. Einige Artgenossen brüten zwar auch in Bayern und bleiben als Standvögel das ganze Jahr über, doch die lärmenden Schwärme, die man dieser Tage in den Stadtparks beobachten kann, stammen zum weitaus größten Teil aus der ehemaligen Sowjetunion. Allerdings: Was heute an Saatkrähen über die Grenze fliegt, ist nur ein Bruchteil der Zahlen früherer Zeiten. Viele russische Vögel entscheiden sich zum Ausharren in der winterlichen Heimat. Das deutsch-russische Verhältnis scheint auf Krähenseite angespannt. Noch bis in die 1990er-Jahre gab es winters riesige Krähenschwärme in den Europäischen Großstädten, wo sie genügend Abfälle fanden und deren Wärme ihnen auch in kalten Nächten warme Schlafplätze bot. Es waren Millionen Vögel, die auf den Kolchosen der ehemaligen Sowjetunion ein gutes sommerliches Auskommen hatten und jeden Herbst nach Mitteleuropa zogen, wo sie wiederum auf den offenen Müllkippen von den Abfällen der Wohlstandsgesellschaft profitierten. Doch seit offene Deponien in Europa verboten sind und gleichzeitig die Länder des ehemaligen Ostblocks inzwischen fast genauso viel Wohlstandsmüll zu bieten haben wie einst die Westeuropäer, verzichten die Saatkrähen zunehmend auf ihren bayerischen Winterurlaub.
Die Raubwürger
Einen uncharmanteren Namen kann man sich wohl nicht ausdenken. Dennoch schlägt das Herz eines jeden Vogelfreundes beim seltenen Anblick eines Raubwürgers höher, denn der Vogel ist einfach schön und in seiner Lebensweise als hocheffizienter Jäger faszinierend. Und bedroht. Zwar erstreckt sich das Brutgebiet der Art von Frankreich bis nach Sibirien, doch in weiten Teilen Westeuropas, so auch in Bayern, ist sie vom Aussterben bedroht. Als Jagdgebiet braucht der grau-weiße Geselle mit der Zorro-Maske nämlich offene bis halboffene Landschaften mit einzelnen Bäumen und Sträuchern, Extensiv-Landschaften also, die bei uns sehr selten geworden sind. Dort sucht er als Ansitzjäger von hohen, exponierten Stellen die Umgebung nach Nahrung ab. Die Beute, hauptsächlich Mäuse, wird dann in Greifvogelmanier am Boden geschlagen oder, seltener, aus einem Rüttelflug heraus aufgenommen.
In Bayern hat man kaum das Glück, einen der wenigen Brutvögel im Sommer zu sehen, doch glücklicherweise sind die Bestände in nördlicheren Teilen Europas noch stabiler. Diese Populationen machen sich als Zugvögel im Herbst in den wärmeren Süden auf und verbringen die Zeit von Oktober bis März dann auch mal im Freistaat, wo man ihn mit Glück entdecken kann. Als Einzelgänger hält er Abstand zu Artgenossen und mischt sich auch nicht unter andere Vogelarten. Direkte Konfrontationen gehen in der Regel nicht über Drohgebärden hinaus. Zurückhaltender ist kein anderer Wintergast.