Adventsserie: Stille Orte in der staaden Zeit

Die Hüterin des Waldes

von Redaktion

von Dominik Göttler

Moosach – Der Zauber beginnt nur wenige Schritte neben dem Pfad. Zielsicher stapft Kirsten Joas zwischen den Fichten hindurch in den Wald hinein. Der Forstweg ist gerade hinter den Baumstämmen verschwunden, da bleibt die Försterin stehen, steckt die Hände in die Manteltaschen und atmet tief ein.

Vor ihr senkt sich der moosbewachsene Boden plötzlich ab zu einer Mulde. Darin steht das Regenwasser, in dem an diesem kalten Wintertag die Sonnenstrahlen baden. Wie ein Wegweiser zu dieser kleinen Idylle steht eine verwunschene Buche auf dem Abhang. Ihr Stamm ist in der Mitte abgebrochen, aber die Zweige darunter wachsen unbeeindruckt von dieser natürlichen Enthauptung, als wäre nichts geschehen. Ein Anblick wie aus einem Tolkien-Roman. Aber statt plattfüßiger Hobbits huschen wie auf Kommando zwei Rehe an der versunkenen Lichtung vorbei.

„Magische Orte wie diesen entdecke ich jeden Tag“, sagt Kirsten Joas, ohne den Blick von dem Schauspiel zu nehmen. Die 46-Jährige aus der Gemeinde Moosach im Landkreis Ebersberg ist als Försterin für rund 800 Hektar Wald von Markt Schwaben bis Antholing zuständig. Ihre Aufgabe ist es, die rund 1100 Waldbesitzer in ihrem Revier zu beraten, wie ihr Wald stabil und nachhaltig wächst und bewirtschaftet werden kann. Dafür ist sie den größten Teil der Woche zwischen den Bäumen unterwegs. Wenn jemand weiß, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, dann Kirsten Joas.

Das Herr-der-Ringe-Fleckchen hat die Försterin mit dem roten Schopf unter der grünen Mütze schon eine Weile hinter sich gelassen, als ihr Handy klingelt. Ein Waldbesitzer aus ihrem Revier ist dran. Kurzer Ratsch. Dann will er wissen, welche Bäume er nachpflanzen soll. „Ahorn oder Stieleiche“, sagt Joas. „Douglasie? Hat mich auf deinem Boden nicht überzeugt. Und wegen dem Rüsselkäfer aufpassen. Ach, ich glaub’, ich komm einfach mal vorbei.“ Joas legt auf. „Ich schau mir das immer lieber selbst an“, sagt sie mit ihrem fränkischen Dialekt, den sie sich auch nach vielen Jahren in Oberbayern bewahrt hat. Ein kurzes Lächeln und sie stapft weiter durch die Stille.

Man muss diese dauerhafte Ruhe im Wald schon aushalten können. Stundenlang nichts außer Vogelgezwitscher, raschelnder Blätter und hin und wieder mal ein Flugzeug. Joas stellt klar: „Ich bin kein Misanthrop.“ Aber sie liebt die Stille. Den modrigen Geruch im Herbst. Die ersten Leberblümchen im Frühling. Und sie ist gern ein kleines Rad im Getriebe dieses gigantischen Ökosystems. Auch wenn sie die Früchte ihrer Arbeit selbst nicht ernten kann – weil im Wald viele Veränderungen einfach länger dauern als ein Menschenleben.

„Ein Waldbesitzer hat mir mal gesagt, er würde alles geben, um sich seinen Wald in 100 Jahren noch mal anschauen zu können“, sagt Joas. Sie schweigt ein paar Schritte lang, dann sagt sie: „Alt werden. Sterben. Dann wieder wachsen. Das gehört doch dazu. Nirgendwo lernt man das so gut wie im Wald.“ Totholz bedeutet neues Leben. Kirsten Joas hat keine Angst vor der Vergänglichkeit.

Als ihr Vater einen Herzinfarkt erlitt und im Wachkoma lag, ging seine Tochter in den Wald. Sie nahm ihre Kamera mit, hielt sie zum Himmel und fotografierte in die Baumkronen. Die Aufnahmen hängte sie über das Krankenbett ihres Vaters. Seitdem hat sie ihren kleinen Fotoapparat immer in der Tasche. Die stillen Impressionen aus ihrem grünen Arbeitszimmer stellt sie regelmäßig aus.

Auch in der Adventszeit ist der Wald bei der Familie Joas natürlich allgegenwärtig. „Als Christbaum hole ich jedes Jahr eine Fichte, die sowieso wegmuss. Das ist quasi eine Pflegemaßnahme“, sagt sie und lacht. Im vergangenen Jahr ging die Familie von der Kirche in Moosach zu Fuß nach Hause. Drei Kilometer mit der Taschenlampe – natürlich durch den Wald. „Das kann ich nur jedem empfehlen. So bringt man die Besinnlichkeit heil nach Hause.“

Als Waldpädagogin geht Kirsten Joas ohnehin regelmäßig mit Schulklassen in den Forst. „Für Kinder ist der Wald ein Raum der unbegrenzten Freiheit.“ Immer wieder beobachtet sie, dass die Kinder in den ersten Minuten im Unterholz herumtollen und mehr Lärm machen als eine ganze Wildschweinrotte. „Die Lehrerinnen wollen da schon immer schimpfen“, sagt Joas. Doch da greift sie ein, lässt die Kinder die Freiheit genießen. Denn auch das zeigt ihre Erfahrung: Schon nach kurzer Zeit fangen die Kleinen an zu basteln, zu bauen und zu erkunden – und werden dabei immer ruhiger. „Der Wald regelt das von ganz alleine.“

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