AFD-HOCHBURGEN IN BAYERN

Alternative für Russlanddeutsche?

von Redaktion

von dirk walter

München/Waldkraiburg – Harry Lutsch rätselt. „Den Herrn Multusch haben wir hier in Waldkraiburg nie gesehen.“ Oliver Multusch – das war der Direktkandidat der AfD im Wahlkreis Altötting, zu dem auch Waldkraiburg gehört. 18,8 Prozent holte der Unbekannte, und bei den Zweitstimmen erreichten die Rechtspopulisten in der Stadt sogar noch mehr: 19,9 Prozent – so viel wie nirgendwo sonst in Oberbayern. „Tief erschüttert und erschreckt“ habe ihn das, sagt der Rumäniendeutsche Lutsch, CSU-Mitglied und aktiv in der „Union der Vertriebenen“. Ausgerechnet Waldkraiburg, sagen jetzt viele. Ausgerechnet die Stadt, die durch Vertriebene – Sudetendeutsche, Rumäniendeutsche, Russlanddeutsche – aufgebaut und geprägt ist. Sie ist jetzt AfD-Hochburg. Dabei gibt es nicht einmal einen AfD-Ortsverband.

Nicht nur in Waldkraiburg hat die AfD überproportional gut abgeschnitten. Auch in Geretsried, in bestimmten Stadtteilen Ingolstadts und Nürnbergs sowie in einem stark von Russlanddeutschen bewohnten Viertel von Deggendorf kam die Partei offenbar gut an.

-In Waldkraiburg erreichte die AfD 19,9 Prozent, im Wahlkreis Altötting waren es 14,5 Prozent. Auch das ist noch über dem Landesschnitt von 12,4 Prozent. Auffällig ist: In Waldkraiburg verteilt sich die Zustimmung weitgehend gleichmäßig, sie reicht je nach Wahllokal von 18,2 bis 23,8 Prozent.

-In Geretsried bei Wolfratshausen kam die AfD auf 14,3 Prozent. In einem Wahllokal im Stadtteil Stein, wo besonders viele Russlanddeutsche wohnen, waren es indes 25,4 Prozent.

-In Ingolstadt kam die AfD auf 15,3 Prozent, im Bezirk „Nordwest“ jedoch auf 24,3 Prozent. Der Statistiker der Stadt, Helmut Schels, hat den Anteil von Aussiedlern in 107 Stimmbezirken mit den AfD-Wahlerfolgen verglichen. Es gebe „einen gewissen Zusammenhang“, sagt er vorsichtig. In Ingolstadt leben über 20 000 Aussiedler, in dem sogenannten Piusviertel westlich der Audi-Fabriken jedoch besonders viele. In drei Wahllokalen dort erreichte die AfD zwischen 31,1 und 35,7 Prozent.

-In Nürnberg-Süd kam die AfD in manchen Wahlbezirken auf bis zu 21 Prozent. Das Wahlamt untersuchte Bezirke mit hohem Anteil an Aussiedlern. „In diesen Bezirken verliert die CSU 14,9 Prozentpunkte, die AfD gewinnt 15,0 Prozentpunkte hinzu.“ Und weiter: „Noch deutlicher fällt das Ergebnis in den elf Wahlbezirken aus, in denen der GUS-MGH-Anteil (Migrationshintergrund ehemalige Sowjetunion – Anm. d. Red.) über 20 Prozent beträgt.“

In Regensburg wohnt Waldemar Eisenbraun (43). Der IT-Berater, in Kasachstan geboren und mit seiner Familie 1990 in die Bundesrepublik eingewandert, ist ehrenamtlich Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Den Begriff „Russlanddeutsche“ vermeidet er lieber, er nennt sie „Deutsche aus Russland“. In Deutschland gibt es rund 3,2 Millionen dieser „Deutschen aus Russland“, gut die Hälfte ist wahlberechtigt. Eisenbrauns Verband hat 10 000 Mitglieder, ist also sehr klein, aber dennoch aktiv. Er protestierte schon vor der Wahl gegen die „Stigmatisierung der Deutschen aus Russland“. Anlass war eine Studie der Uni Duisburg-Essen mit einer steilen These: Russlanddeutsche wählten verstärkt AfD, hieß es da. „Das konservative Weltbild der AfD kommt gut an.“ Erstmals aufgefallen war dies im „Fall Lisa“: Im Januar 2016 hatte ein russlanddeutsches Mädchen, das die Medien „Lisa“ nannten, eine Vergewaltigung durch Flüchtlinge erfunden. Später stellte sich heraus, dass die 13-jährige Schülerin in Wahrheit einvernehmlich Sex gehabt hatte – doch da war es schon zu spät. In mehreren Städten verabredeten sich Russlanddeutsche zu flüchtlingsfeindlichen Spontandemos. „Auch bei uns sind damals Russlanddeutsche auf dem Rathausplatz aufgetaucht“, erinnert sich Martin Geistbeck, katholischer Pfarrer in dem Ingolstädter „Problemstadtteil“ Piusviertel. Er hat sich über das hohe Wahlergebnis gewundert. „Denn AfDler ist mir hier noch keiner über den Weg gelaufen.“ Die AfD stellte sich in bundesweiten Kampagnen als russlandfreundlich dar, holte einzelne Russlanddeutsche in ihre Reihen und organisierte „Russland-Kongresse“. Zuletzt warb auch noch die ehemalige Bundesvorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, für die AfD. Es passte alles so gut zusammen.

Jetzt, nach der Wahl, zieht Eisenbraun Bilanz: „Es ist natürlich bequem, Sündenböcke zu suchen“, sagt er. Aber in den eigentlichen Hochburgen der AfD, etwa in Sachsen mit einem AfD-Ergebnis von 27 Prozent, „leben kaum Deutsche aus Russland“. Das Gros der Russlanddeutschen sei nach wie vor unionsorientiert. Und: „Viele Landsleute“, sagt er, „gehen gar nicht zur Wahl“, obwohl sie schon 20 Jahre in Deutschland lebten.

Allerdings, fügt Eisenbraun an, „ändert sich das gerade“. Während früher die Integration der Russlanddeutschen „auffällig unauffällig“ klappte und diese kaum Forderungen stellten, gebe es nun mehr politisches Interesse.

In der Tat gibt es bei der Wahlbeteiligung in Vertriebenenstädten eine eigenartige Entwicklung: Sie liegt auch 2017 noch unter dem Durchschnitt, aber es gibt überproportionale Zuwächse:

-In Waldkraiburg wählten 2013 57,1 Prozent, am Sonntag jedoch 66 Prozent. Zum Vergleich: Die Wahlbeteiligung in Bayern lag bei 78,2 Prozent, im Bund bei 76,2 Prozent. Der Zuwachs in Waldkraiburg betrug also 8,9 Prozent, in Bayern 8,2 Prozent.

-Noch auffälliger ist der Sprung der Wahlbeteiligung in Geretsried von 63,6 auf 74,5 – ein Plus von 10,9 Prozent.

-In Regenstauf/Oberpfalz, wo viele Aussiedler leben, schnellte die Beteiligung von 68,1 auf 78,7 Prozent. Das Ergebnis der AfD: 17,6 Prozent.

-In Ingolstadt „Nordwest“, wo die AfD punktete, stieg die Beteiligung auf 51,7 Prozent. Das klingt wenig – doch bei früheren Wahlen waren es weniger als 40 Prozent, sagt Stadt-Statistiker Schels.

Neues politisches Bewusstsein also. Viele Russlanddeutsche erinnerten sich angesichts des Flüchtlingsandrangs seit 2015 an ihre eigene Emigration, sagt Waldemar Eisenbraun. Es dürfe „keine Neiddebatte“ entstehen, warnt er. Aber subjektiv fühlten sich viele Deutsche aus Russland oder Kasachstan benachteiligt. Etwa weil ihre Arbeitsleistung in der alten Heimat nur mit Abschlägen bei der Rente berücksichtigt werde oder weil Berufsabschlüsse von damals hier, in der Bundesrepublik, nicht anerkannt wurden. Den jetzigen Flüchtlingen hingegen, so heiße es, werde es leicht gemacht. Die soziale Frage sei unter den Russlanddeutschen, weit mehr als etwa bei den Sudetendeutschen, ein großes Thema, warnt auch der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, der die Aktivitäten der AfD aufmerksam verfolgt hat. Viele Russlanddeutsche hätten außerdem Verwandte in der alten Heimat und seien ihrem Land emotional verbunden – das erkläre manches, auch die Einschaltquoten von „Russia Today“, einem von Russland finanzierten Nachrichtensender, der die AfD hofiert und zum Beispiel den russlanddeutschen AfD-Funktionär Hans-Jörg Müller aus Ainring bei Berchtesgaden zum Interview nach Moskau einlud. Müller ist nun im Bundestag.

Pfarrer Geistbeck vom Piusviertel sagt, in Ingolstadt würden die Aussiedler etwas abschätzig oft als „die Russen“ bezeichnet. „Unser Viertel hat einen schlechten Ruf, aber es wurde viel getan“, fügt er an. Spielplätze, ein Projekt „Soziale Stadt“, Sozialpädagogen. Ganz beheben lasse sich das soziale Gefälle kaum, meint der Pfarrer. Doch den Wahlerfolg einer fremdenfeindlichen Partei könne er nicht nachvollziehen. „Viele Leute hier haben doch selbst Flucht-Erfahrungen.“

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