„Vergnüglich leben statt gesund sterben“

von Redaktion

Erich Schützendorf, 68, ist Buchautor und humorvoll-provokanter Experte für Fragen des Älterwerdens. In der Pflegebranche hat sich der Diplom-Pädagoge als Vor- und Querdenker einen Namen gemacht. Nun ist er selbst in Rente und hat für den Fall seiner Pflegebedürftigkeit mit einer „Lebensverfügung“ vorgesorgt.

Im Interview rät er allen Senioren, ihre Wünsche schriftlich festzuhalten, damit die kleinen und schönen Dinge des Lebens später nicht zu kurz kommen.

-Herr Schützendorf, was ist denn bitte eine Lebensverfügung?

Im Prinzip ein Gegenentwurf zur Patientenverfügung, die sich vor allem mit lebensverlängernden Maßnahmen beschäftigt. Die Lebensverfügung soll sicherstellen, dass die Wünsche von Pflegebedürftigen erfüllt werden, auch wenn diese sie wegen Demenz oder Pflegebedürftigkeit selbst nicht mehr äußern können. Die beste Pflege ist die, die ich mir wünsche. Aber es kann leicht passieren, dass man nicht mehr als selbstbestimmter Mensch gesehen wird, wenn man sich in fremde Hände begibt.

-Wie meinen Sie das?

Das Pflegesystem erwartet, dass man die Bemühungen um das eigene Wohl unterstützt. Es will, dass seine Patienten gesund sterben, statt vergnüglich zu leben. Dabei sind es oft kleine, zweckfreie Dinge, die den Menschen zum Menschen machen. Das kann der Schnaps nach dem Abendessen oder eine Praline als Betthupferl sein, auch wenn die Leber- oder Zuckerwerte vielleicht dagegensprechen.

-Sie fordern also das Recht auf Unvernunft?

Ich weiß selber am besten, was gut für mich ist. Kürzlich musste ich lesen, wie ein sogenannter Pflegeexperte Mangelernährung bei einem über 90-Jährigen angeprangert hat, mit der Drohung, das werde kein gutes Ende nehmen. Will heißen: Das Leben im Alter endet mit dem Tod, wenn man sich nicht richtig ernährt. Na ja. Durch dieses Überwachen und Umerziehen ist das System weit weg von dem, was Menschen Freude macht.

– Das Alter ist auch so nicht die angenehmste Lebensphase, oder?

Das Alter ist keine Krankheit, die man bekämpfen muss. Entpflichtung und Verlangsamung sind Privilegien. Ich begreife das Leben als Drei-Gänge-Menü. Nach der Jugend als Vorspeise und der Erwachsenenzeit als Hauptgang kann das Alter die süße Nachspeise sein, die das Menü abrundet. Ich habe das Leben schon von Berufs wegen immer vom Ende her betrachtet. Jetzt, mit 68, habe ich mir vorgenommen, selber ein alter Mann zu werden. Das war ich noch nie.

-Was ist im Alter schöner als in jungen Jahren?

Es tut gut, nicht mehr dauernd den funktionierenden Erwachsenen spielen zu müssen. Seit meiner Pensionierung merke ich, dass mir das Sinnliche, Kindhafte und Poetische wichtiger geworden ist. Es braucht nicht mehr alles vernünftig, planbar und logisch zu sein. Und dann ist da die entspannte Alterserotik.

-Was darf man sich darunter vorstellen?

Früher war ich nervös, wenn ich in der Gegenwart einer attraktiven Frau war. Heute muss ich nichts mehr beweisen und kann eine beiläufige Berührung ganz entspannt genießen. Nachlassen im Alter ist nicht nur Verlust. Vielleicht nehmen mich die Frauen jetzt auch anders wahr: Mir ist aufgefallen, dass diese Berührungen häufiger geworden sind. In der Pflege sind sie dann unausweichlich.

-Das hat aber nichts mehr mit Erotik zu tun.

Leider. Ein bisschen entspannte Alterserotik täte der Pflege gut. Man kann einen Menschen auch mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern waschen. Oder als Pflegekraft mal ein Kompliment erwidern. Mir fällt dazu immer die Geschichte von dem alten Charmeur ein, der in den Speisesaal kam und der Betreuerin ein „Guten Morgen, hübsche Frau!“ zuruft. Und sie fragt ihn: „Wurst oder Käse?“ Da verfliegt jeder Zauber. Altenpflege ist ausgesprochen lustfeindlich. Dabei hätte eine vielsagend gehobene Augenbraue dem Mann an dem Tag vielleicht seine Antidepressiva erspart. Auch darum geht es bei der Lebensverfügung: Das System menschlicher zu machen.

-Glauben Sie, dass so eine Lebensverfügung wirklich Wirkung zeigt?

Einklagen kann man Verhaltensweisen kaum. Man kann nur bitten oder appellieren. Es empfiehlt sich dringend, wie in einer Vorsorgevollmacht einen Sachwalter einzusetzen, dem man zutraut, dass er die aufgeschriebenen Wünsche durchsetzt. Und engagierten Pflegekräften soll die Lebensverfügung als Legitimation dienen, damit sie sich trauen, trotz aller Vorschriften auf individuelle und unvernünftige Vorlieben einzugehen.

-Was steht denn in Ihrer Lebensverfügung?

Nur ein paar Beispiele: Ich will den Sommerregen auf meiner Haut spüren dürfen, auch wenn ich mir dabei vielleicht eine Lungenentzündung hole. Ich will einmal am Tag mit Schokolade versorgt werden, am liebsten Nuss-Nougat, ganz gleich, was der Blutzuckerwert sagt. Wenn ich tagträume, soll man mich in Ruhe lassen, statt dem in der Pflege üblichen Beschäftigungsfetischismus zu verfallen. Und wenn mich jemand zärtlich berührt, werde ich das auf keinen Fall als übergriffiges Verhalten deuten.

Interview: Josef Ametsbichler

Das Buch

„Meine Lebensverfügung für ein gepflegtes Alter“ von Erich Schützendorf ist beim Münchner Reinhardt-Verlag, Tel. (0 89) 17 80 16-0, erhältlich. Preis: 12,90 Euro.

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